In den nächsten drei Tagen teilten sich die Abenteurer auf. Luo spürte im Bauch des Drachen Informationen zu Kong und Yia nach. Er merkte rasch, dass die Einwohner des Viertels Fremden gegenüber zurückhaltend waren. Selbst sein sonst so verlässliches Kontaktnetzwerk war von geringem Nutzen. Doch mit viel Zeit, Mühe und kleinen Geschenken fand er doch noch einiges heraus. Offenbar fanden tatsächlich nicht wenige der hier lebenden Rattlinge einen kärglichen und auch gefährlichen Verdienst im Sumpf der 32.000 Lichter. Sie suchten nach wertvollen Pflanzen und Tieren, stöberten nach verschollenen Siedlungen und Wagenzügen oder arbeiteten bei der Urbarmachung. Es hieß sogar, dass manche von ihnen Sumpfleichen bargen, obwohl sich niemand sicher war, was ihre mysteriösen Abnehmer damit anfangen konnten. Auch hier hörte Luo, dass in letzterer Zeit einige wertvollere Fundstücke aufgetaucht sein sollten. Allerdings hatte es kürzlich bei Geistangriffen Verletzte und sogar einige Tote oder Vermisste gegeben.
Kong hatte sich offenbar ebenfalls im Bauch des Drachen umgehört. Sollte er tatsächlich mit Yia Kontakt aufgenommen haben, dann trieb er ein gefährliches Spiel, denn diese war angeblich eine (ehemalige?) Bandenführerin und Piratin mit guten Triadenkontakten. Neben ihren eher fragwürdigen Geschäften betrieb sie einen Imbiss, der für seine Nudelsuppe berühmt war. Allerdings hieß es, man solle sich lieber an die vegetarische Variante halten, denn welches Fleisch im Topf landete…
Die Spur, die Luos Mitstreiterinnen gefunden hatten, war sogar noch vielversprechender. Mit Hilfe von Ren war es Hao gelungen, viele Hinweise in der einfachen Bevölkerung aufzuschnappen. Kong und eine Handvoll Söldlinge – ein Varg und einige Menschen – hatte sich angeblich bei einem eher eigenbrötlerischen Fischer namens Ma eingemietet, der auf sich allein gestellt im Sumpf lebte. Die drei beschlossen Abenteurer, Mas Hütte aufzusuchen.
Angesichts der Geschichten über den Sumpf waren die Helden auf mögliche Konfrontationen vorbereitet. Mas Hütte und der nahe Bootsschuppen boten einen ärmlichen Anblick. Auf das Rufen der Abenteurer reagierte niemand. Luo knackte das simple Schloss und sie durchsuchten die Wohnung. Es schien, dass im Inneren ein Kampf stattgefunden hatte. Möbelstücke waren umgestürzt, und es fanden sich Blutspuren. Luo entdeckte einen gut versteckten Lederbeutel mit einigen Lunaren. Die meisten Münzen waren neu, sehr wahrscheinlich Mas Lohn für seine Dienste. Das ließ vermuten, dass ihm etwas zugestoßen war - er hätte sein Geld sicher nicht zurückgelassen. Zudem fanden sich Schleifspuren, die zum Bootsschuppen führten. Bei Näherkommen erfüllte alle ein unbestimmtes Gefühl des Unheils und der Bedrohung, was Hao und Luo beinahe am Betreten des Gebäudes gehindert hätte.
Die vagen Befürchtungen erwiesen sich als gerechtfertigt, fand sich doch im Innern eine aufgedunsene, kaum noch identifizierbare Leiche. Die Wände waren mit rotbraunen Schriftzeichen übersäht. Rens „Magie erkennen“ enthüllte, dass hier Zauber gewirkt worden waren und noch immer nachwirkten. Hao erkannte die Schriftzeichen wieder – sie ähnelten denen auf dem „Geisterhorn“, dass die Abenteurer im Sumpf außerhalb von Timog erbeutet und an das Fürstenhaus der Kranichprovinz abgegeben hatten. Alle drei meinten am Rande des Hörbaren ein Wispern und Raunen zu hören. Während Hao den Schuppen lieber verließ und Luo die Waffe bereithielt, konnte die Magierin durch einfache Ja-Nein-Fragen so etwas wie eine Verständigung mit dem Geist des Toten herstellen. Sie bereute sehr, dass sie sich nicht die passenden Zauber für eine Kommunikation mit den Geistern gelernt hatte. Aber sie erfuhr dennoch, dass es sich beim Toten um Ma handelte – und dass er von Kong und seinen Schergen getötet worden war. Der Grund blieb unklar. Das war ein erschreckende Wendung, denn bisher hatten die drei den (angeblichen?) Diener des Geisterministeriums nicht für einen Schwerverbrecher gehalten. Auf Haos Drängen bastelte man notdürftig eine Trage, um die Leiche in die nächste Siedlung mitzunehmen.
Das alles hatte Zeit gekostet, und da sowohl Ren als auch Hao weder kräftig noch gut trainiert waren, kam man nur langsam voran. In den länger werdenden Schatten zeichneten am Rande des Sichtfeldes schemenhaften Bewegungen ab.
Dann stellte sich den Abenteurern eine Gestalt in den Weg. Im Zwielicht zeichnete sich eine halb durchscheinende Silhouette ab: ein Mann oder Frau in einem altertümlichen roten Oyoroi-Panzer – doch unter dem einst prunkvoll geschmückten Helm war nur noch ein Totenschädel mit leeren Augenhöhlen. Ren, die sich der Gunst der Geister sicher glaubte, trat vor und redete den Geist respektvoll in Kintial an. Die Antwort verstand sie nicht, doch hielt sie in respektvoller Pose stand, als die Gestalt näher floss. Schließlich schwebte der Schemen direkt vor ihr und streckte die Hand nach der jungen Frau aus. Immer noch verhielt Ren sich ruhig, auch als er ihre Stirn berührte. Ein Schmerz wie ein heftiger Fausthieb durchfuhr sie, und vor ihrem inneren Auge tauchte eine Folge rasch wechselnder Visionen auf: ein erbitterter Kampf zwischen Soldaten Myurikos und des Kaiserreiches Zhoujiang, der Sturz ins brackige Wasser, das sich wie ein Sargdeckel über den Sterbenden schloss. Ein Schlaf, der Jahrhunderte währte und doch nur Augenblicke zu dauern schien, und schließlich Klauen, welche die Schlafenden aus ihrer Ruhe rissen. Ein Gefühl von Wut und Verlust war zu spüren, und ein Zerren, als würde sie zugleich aus mehreren Richtungen angezogen und abgestoßen. Einer der „Zugpunkte“ schien der Schuppen Mas zu sein, der andere lag weiter im Osten. Und schließlich sah sie einen Ort im Sumpf. Sie war sich sicher, dass die Geister gezielt aufgehetzt worden waren. Dann verschwand der Geist.
Erschüttert erreichten die drei mitten in der Nacht die nächste Ansiedlung, mit Schlamm bespritzt und mit einer bereits deutlich verwesten Leiche im Schlepptau. Es war Haos diplomatischen Geschick (und ihrer Position als Priesterin) zu verdanken, dass die Einwohner nicht feindselig reagierten, sondern sich des Leichnams annahmen. Luo gab einige der in Mas Hütte gefundenen Münzen ab, damit ein Begräbnis organisiert werden konnte. Dann säuberten sich die drei und ruhten sich erst einmal aus. Besonders Ren schlief schlecht, verfolgten sie doch die Visionen des Geistes. Am nächsten Tag kontaktierten die drei ihren Auftraggeber. Yaogun Tran sah sich jedoch außerstande, schnelle Hilfe zu versprechen. Selbst in Zhoujiang war die „Aussage“ eines Geistes nicht ausreichend, um einen Beamten des Geisterministeriums festzusetzen.
Mehr und mehr kristallisierte sich der Verdacht heraus, dass Kong nicht versucht hatte, etwas gegen die Geister zu unternehmen, sondern eher an der jüngsten Zunahme der Geisterzwischenfälle Schuld trug. Zwar hatte es im Sumpf der 32.000 Lichter schon immer sporadisch Probleme gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Helden kamen überein, die in der Vision erschienen Orte aufzusuchen. Zuerst wollten sie die Schriftzeichen in Mas Schuppen unschädlich machen.
Deshalb eilten die Abenteurer am nächsten Tag zurück in den Sumpf – darauf bedacht, ihr Vorhaben vor Einbruch der Dunkelheit zu beenden. Während Ren und Hao die Schriftzeichen für spätere Recherchen kopierten, durchsuchte Luo noch einmal gründlich die Hütte. Er suchte Dinge, die Ma etwas bedeutet hatten, um sie ihm ins Jenseits nachzusenden. Er fand eine bessere Teeschale und einen Anhänger des Flussdelphins Iruka. Allerdings brauchten die Abenteurer mehr Zeit als sie gehofft hatten, so dass der Abend nicht mehr fern war.
Es war gut, dass Luo die Umgebung im Auge behielt, denn so bemerkte er rechtzeitig, dass sich mehrere Gestalten der Hütte näherten. Während er sich draußen versteckte, verbargen sich Hao und Ren im Schuppen. Beim Näherkommen entdeckten die Abenteurer, dass es sich bei einem der Näherkommenden um einen alten Feind handelte: Tang, den Räuberhauptmann, dem sie das Geisterhorn abgenommen hatten.
Während Hao einer Begegnung lieber aus dem Weg gegangen wäre, waren Luo und Ren auf Konfrontation aus – und so kam es zum Kampf. Die vier Bewaffneten erkannten im letzten Moment den drohenden Hinterhalt, doch Luo stieß dennoch in ihre Mitte vor und konnte Tang bereits zum Auftakt des Gefechts schwer treffen. Binnen kurzem eskalierte der Kampf – die meisten der Gegner konzentrierten sich auf Luo, der nur dank seines Waffengeschicks von schwereren Verletzungen verschont blieb, während Ren ihren „Höllenhund“ beschwor und in den Kampf hetzte. Hao und Ren jagten einen Feind schwer verletzt in die Flucht, während der Hund nacheinander zwei weitere schwer verwundete, die panisch um Gnade flehten. Inzwischen blutete auch Tang aus zahlreichen Wunden. Sowohl Ren als auch Luo versuchten vergeblich, ihn gefangen zu nehmen. Schließlich riss der Feuerhund Tang die Kehle heraus. Ren versuchte ihn zu stabilisieren, aber es war zu spät. Die Helden entwaffneten und fesselten die überlebenden Gegner. Es schien so, als ob Tang seit dem letzten Mal an Macht und Reichtum eingebüßt hatte, denn seine Ausrüstung war diesmal recht einfach, und verriet leider nichts über seinen Auftrag.
War dies ein Ausgang, den die Abenteurer etwas bedauerten, weil sie Tang gerne verhört hätten, so bekam der Kampf binnen kurzem eine beunruhigende Note. In der hereinbrechenden Dunkelheit zeichnete sich erneut der Schemen des rotgepanzerten Geistes ab, dem die drei in der Nacht zuvor begegnet waren. Bei Tangs Leichnam angelangt, tauchte er die geisterhafte Hand in das frische Blut des Toten, und schien mit einmal an Substanz zu gewinnen. Mit einem blitzschnellen Hieb seines Katanas enthauptete er den Varg und verschwand dann spurlos – mitsamt Tangs Schädels. Hao fragte sich beunruhigt, ob die Gefahr bestand, dass die aufgestörten Geister ihren uralten Krieg gegen Zhoujiang fortsetzen könnten.
Niemand wollte durch die Dunkelheit zurückmarschieren, und so verbrachten die Abenteurer und die Gefangenen die Nacht in der Hütte. Zuvor verbrannten die Abenteurer den Schuppen mit den Schriftzeichen, Tangs Leiche und Mas persönlichen Gegenständen.
Ein Gutes hatten die unheimlichen Ereignisse – die Gefangenen redeten überaus bereitwillig. Sie schoben alle Schuld auf Tang und Kong, vor denen sie beide Angst hatten. Von den Plänen ihrer Auftraggeber wussten sie indes nichts Genaues. Sie hatten als Muskeln fungiert und Kongs Forderungen Nachdruck verliehen. Tang und Kong waren vor gut anderthalb Wochen mit drei Rattlingen in den Sumpf gegangen, aber alleine zurückgekehrt. Die Abenteurer ahnten, dass es für die Nezumi kein gutes Ende genommen hatte. Die Handlanger hatten ihrerseits einen Kontaktmann der Rattlinge im Osten des Viertels getötet, wo Kang an dem Leichnam irgendein Ritual durchgeführt hatte. Sehr wahrscheinlich war dies der zweite Ort, zu dem die Vision des Geistes Ren rief. Tang hatte seinen Handlangern gedroht, dass „der Meister“ ihnen die Seele herausreißen und sie zu ewiger Knechtschaft verdammen würde, falls sie versagten oder redeten. Es blieb unklar, ob dieser ominöse „Meister“ Kong oder jemand anderes war. Die Abenteurer erinnerten sich, dass Tang schon bei ihrem letzten Zusammentreffen seinen Unterlingen mit einem mysteriösen Auftraggeber, dem „Bleichen“, gedroht hatte.
Kong war inzwischen seit gut 10 Tage nicht mehr aufgetaucht. Es stand zu befürchten, dass er sich aus Palitan abgesetzt hatte. Tang und seine Handlanger waren zurückgeblieben, um die Situation zu beobachten. Sie hatten erfahren, dass jemand herumschnüffelte, und als der Varg die Beschreibung der Suchenden hörte, war er außer sich geraten – zweifellos hatte er die Abenteurer wiedererkannt. Er hatte wohl geplant, sich mit seinen Handlangern bei Mas Hütte auf die Lauer zu legen und war dabei spektakulär gescheitert.
Am nächsten Morgen traten die Abenteurer mit ihren Gefangenen den Rückmarsch an. Sie übergaben die Handlanger an Yaogun Tran. Als nächstes planten sie, den Ort aufzusuchen, an dem der Nezumi-Kontaktmann ermordet worden war. Tran riet, unbedingt auch dem Geisterministerium zu berichten. Allerdings würde das eventuell zu Problemen führen, war Kong doch als Ministeriums-Angehöriger aufgetreten. Hatte er das Siegel und seine Papiere gefälscht? Ren war zudem entschlossen, auch den Schwertalben Bescheid zu geben. Luo musste seine vom Kampf lädierte Klinge reparieren. Alle drei blickten mit Sorge auf den morgigen Tag.
***
Während Hao mit einem Zauber Luos beschädigte Klinge ausbesserte, beschaffte sich Ren eine Schriftrolle, die ihr die Fähigkeit verleihen würde, mit Geistern zu kommunizieren. Dann machten sich die drei auf den Weg. Ihr Ziel am äußersten Rand der bewohnten Gebiete. Schlimmer noch – die Herbstregen der letzten Tage hatten den Wasserpegel steigen lassen. Die Abenteurer erkannten rasch, dass sie zu ihrem Ziel, einer maroden, auf hohen Stelzen stehende Hütte, nur schwimmenderreichen konnten. Bei dem Gedanken an mögliche Untiere oder die angeblich im Sumpf umgehenden Untoten sank allen dreien der Mut, aber sie sahen keine Alternative. So durchschwammen sie – im Falle Luos mit einigen Problemen – den Wasserlauf. In der Nähe der Hütte überkam sie wieder ein Gefühl der Bedrohung und Gefahr. Hao und Luo meinten zudem, in dem Gebäude Bewegungen zu hören. Sich Zugang zu verschaffen war schwierig, da die Leiter zu der Bodenluke entfernt worden war. Luo kletterte an den Stelzen empor. Als er durch ein Loch im Dach das Gebäude betrat, wurde er von einem grässlich aussehenden Untoten attackiert. Seine schnellen Reflexe und Klinge garantieren ihm jedoch einen raschen Sieg. Bei dem Wiedergänger handelte es sich wohl um den Kontaktmann der Nezumi. Wieder waren mit seinem Blut zahlreiche Schriftzeichen an die Wände gemalt worden, fast identisch mit jenen am anderen Ritualplatz. Wie dort wirkten sie klobiger als jene auf dem „Totenhorn“, das die Abenteurer einige Monate zuvor erbeutet hatten, was freilich auch an der Eile und dem wenig geeigneten „Schreibmaterial“ liegen mochte. Luo fand in einer Ecke einen Fetzen Papier, der wohl zu einer Vorlage für die Inschriften gehört hatte. Da es sich als sehr schwierig erweisen würde, die Leiche zu bergen, beschlossen die Abenteurer, die Leiche mit der Hütte (und den Inschriften) zu verbrennen. Durchnässt und verschmutzt, aber weitestgehend unversehrt erreichten die drei am Abend ihre Quartiere, entschlossen, am nächsten Tag den letzten, zentralen Ritualplatz zu finden.
Diesmal nahmen die Abenteurer sicherheitshalber Proviant mit. Es wirkte grotesk, dass wenige Meilen außerhalb der zweitgrößten Metropole von ganz Lorakis eine Wildnis aus sich im Winde wiegenden Sumpfgräsern, Schilfhalmen und morastigem Wasser begann, durch die nur wenige befestigte Pfade führten. So manche Geschichte über Geister, aber auxh Monster aus grauer Vorzeit (oder Ausbrecher aus der Straße der Wunder oder der kaiserlichen Menagerien) und über mundane Gefahren wie Krokodile, Sumpflöcher und Krankheiten waren im Umlauf. Obgleich sich die Atmosphäre von dem „erwachten“, fremdartigen Kamioku-Wald bei Miari unterschied, war sie beunruhigend genug.
Es gelang Hao, die kleine Gruppe ohne unliebsamen Zwischenfall zu führen. Es fanden sich sogar Spuren von anderen Reisenden - vielleicht von Kong und seinen Begleitern? Gegen Mittag verstärkte sich bei Ren das Gefühl, dass sie dem Ort nahe war, den sie in der Geistervision gesehen hatte.
Das Ziel entpuppte sich als kleine Insel, mit einem Ring aus provisorischen Pfählen umgeben, an denen verwitterte Papierfetzen hingen – Schutzzeichen gegen Untote. Der Boden der Insel war aufgewühlt worden. Im Boden fanden sich Spuren alter Rüstungen, Knochenteile und ähnliches. Mehr als beunruhigend war, dass etliche der Knochen Bissspuren aufwiesen. Auch den erwarteten Ritualplatz fanden die Abenteurer rasch. Von den sehr wahrscheinlich dort ermordeten Nezumi waren nur noch Reste geblieben. Die Abenteurer mutmaßten, dass der Schutzring im Sumpf umgehende Ghule abhalten sollte, die sich an den Sumpfleichen vergriffen, und nach dem Nachlassen der Schutzzeichen die Nezumi-Kadaver weggeschleift oder an Ort und Stelle verschlungen hatten. Dies ließ es ratsam erscheinen, nicht zu lange vor Ort zu verweilen. Kong hatte den Ritualplatz mit hölzernen Tafeln versehen, deren Schriftzeichen denen in den Hütten ähnelten. Ren und Hao fertigten Abschriften an, und übergaben die Holztafeln anschließend den Flammen. In der Hoffnung, durch die Zerstörung der Ritualplätze die Geistergefahr gemindert zu haben, machten sich die drei eilig auf den Rückweg. Sie wollten keineswegs die Nacht an einem Ort verbringen, der von Leichenfressern als Futterplatz aufgesucht wurde. Tatsächlich schafften sie es unbehelligt zurück.
Nach ihrer Rückkehr erstatten die Abenteurer ihrem Auftraggeber Bericht, der sie für ihren Einsatz lobte. Auch die Familie Ka war zufrieden. Yaogun Tran verfasste zudem eine Nachricht an das Geisterministerium und lieferte die Kopien der Ritualschriften ab. Ren schickte zudem eigene Abschriften mit einer genauen Beschreibung der Ereignisse zu den Kaiserlichen nach Sentatau. Allerdings erschien fraglich, ob man dort an den fernen Ereignissen Interesse zeigen würde.
Ihre Erlebnisse waren für die Magierin ein Ansporn, sich mit Todesmagie zu beschäftigen, um bei künftigen Begegnungen mit Geistern besser vorbereitet zu sein.
Die Reaktion des Geisterministeriums wurde etwa eine Woche darauf von Tran übermittelt: bei Kong habe es sich keinesfalls um einen Angehörigen des Ministeriums gehandelt. Man vermutete, dass die gesteigerte Zahl an Geistern darauf zurückging, dass ein Ritual missglückt sei, oder er versucht habe die Neulandgewinnung zu stören – sprich, man verneinte jede Möglichkeit dass er weitreichende Ziele hatte. Die Abenteurer hatten da ihre Zweifel…
Ren ließ es sich nicht nehmen, auch Akira und die Kintai-Botschaft zu informieren, wo man die Nachricht höflich, aber zurückhaltend aufnahm. In den nächsten Tagen schickten auch die Kintari Leute aus, um die Toten beizusetzen. Dies ging freilich nicht ohne Meinungsverschiedenheiten mit dem Geisterministerium ab. Beide Seiten trauten sich offenbar nicht und unterstellten einander, unbequeme Wahrheiten unter den Teppich zu kehren. Diese Rivalität heizte die Gerüchteküche an.
Die Zurückhaltung der Kintari lag vermutlich daran, dass die Toten gefallen waren, als sie Myurikos Willen zuwider handelten, was das Andenken mit einem gewissen Makel behaftete. Wie es hieß, hatten damals etliche Schwertalben Selbstmord begangen, um die Schande des Rückzugs oder ihr Handeln gegen Myurikos Willen zu sühnen. Die meisten Toten hatte man in die Heimat gebracht, doch offenkundig nicht alle. Diese alten Geschichten aufzuwärmen, rührte auf beiden Seiten der Grenze an alten Wunden, zumal Gerüchte nicht verstummen wollten, dass manche Schwertalben eine erneute Expansion gen Norden herbeisehnten. Wie die anderen Helden erfuhren, hatte auch Akiras Ahnin an früheren Vorstoß gen Palitan teilgenommen, ihn allerdings überlebt.
Dank der Warnung der Abenteurer gab bei den Untersuchungen und der Bergung der Leichenreste zwar einige Zusammenstöße mit den Guhlen, doch keine Toten.
Hao hingegen entschloss sich, auch „die große Yia“ zu informieren. Sie hoffte, dass diese die Familien der ermordeten Nezumi vom Schicksal ihrer Angehörigen in Kenntnis setzen würde. Luo begleitete sie als Rückendeckung. Mit etwas Mühe konnte die gnomische Unggoy-Priesterin in der Nudelküche Yias eine „Audienz“ mit der Geschäftsinhaberin erhalten. Yia, eine recht großgewachsene Nezumi mit braunem Fell und gelben Augen, angetan mit einer bestickten Seidenweste und einem Dschiahn, nahm die Informationen entgegen, ohne ihrerseits viel zu verraten. Wahrscheinlich wollte die Rattlingsfrau nicht verraten, inwieweit sie Kong geholfen hatte. Sie sagte aber zu, die Familien der Ermordeten zu informieren. Es blieb zu hoffen, dass sie ihre Augen aufhielt, sollte der Nekromant noch einmal in Palitan auftauchen.
Leider hatten die Abenteurer weder ermitteln können, was Kongs Motive waren, noch den mörderischen Geisterbeschwörer unschädlich machen können. Wie sich in den folgenden Tagen erwies, schien die Zerstörung der Ritualplätze zumindest die Angriffe der wütenden Geister beendet zu haben – doch wer wusste schon, welche Ränke der mysteriöse „Meister“ noch aushecken mochte…
***
Währenddessen waren die Recherchen im kaiserlichen Archiv weitergelaufen, nun zum „Kult des Strahlenden Schattens“. Sporadisch unterstützt von Ren und Hao konnte die Gelehrte Hira viele Informationen zusammentragen:
Der apokalyptische Kult war schon vor dem Mondfall zerstört worden. Sein Credo hatte gelautet, dass Zerstörung nötig sei, um eine bessere Welt aufzubauen. Dies hatte den Sturz der Drachlinge und ihrer Götter beinhaltet, weshalb die Gruppierung ihre Anhängerschaft vor allem unter den „Sklavenrassen“ gefunden hatte. Sie war aber von den Dracuriern zerschlagen und ihre Artefakte zerstört oder versteckt worden. Die Kultisten hatten eine Gottheit oder ein Wesen namens Kari verehrt, die sie die „Wandelbare“, „Vielgesichtige“ oder „Verborgene“ nannten, und deren Zeichen ein achtzackiger schwarzer Stern war. Erst die Zerstörung der sie „bindenden Ketten“ könne eine bessere Welt erschaffen. Der Kult hatte auf irgendeinen Magnus Opus hingearbeitet, bei dem das Wüten von Dämonen wie Kokumo nur ein Aspekt gewesen wäre.
Sehr apokryphe Hinweise ließen es als möglich erscheinen, dass der Kult nicht vollkommen vernichtet worden war, doch jede Erwähnung lag dennoch viele Jahrhunderte zurück. Für das Endziel des Kultes hatte wohl ein Zeitrahmen bestanden, der mit „Sharzeris Passage“ zusammenhing – doch weder Hira noch die Abenteurer konnten mit dieser Bezeichnung etwas anfangen.
Die Helden entschlossen sich, die Informationen weiterzuleiten – Akira etwa an die Uome in Miari. Freilich war nicht auszuschließen, dass diese weit zurückliegenden Geschichten wenig dazu beitragen würde, um die Unterstützung für den „Tempel der tausend Tore“ zu verstärken. Die Helden begannen darüber nachzusinnen, ob sie nach Abschluss der Recherchen ihr Glück im „Gebirgskloster der eisernen Lotosblüte“ in den Türmen der Tengu, nordwestlich des Maishi-Sees versuchen sollten, auf den sie Akira hingewiesen hatte.
Zunächst aber wollten sie noch einigen eigenen Projekten nachgehen.
Als nächstes würde Hira in Haos Auftrag nach Informationen zur Kirche des Drachen und diesem inzwischen kaum noch verehrten Großen Tiergeist forschen, der einst für den „Tempel des tausend Tore“ eine zentrale Rolle gespielt hatte…