Hallo Narlic, und willkommen im Forum!
Bitte verzeih mir, dass ich deinen Beitrag in mehrere Teile zerlege, um einzeln darauf zu antworten - aber sonst wird es einfach zu unübersichtlich. Ich fange mal direkt mit dem Kern an, bevor ich zu den Berechnungen komme.
...mein Dilemma kann überhaupt nicht aufgelöst werden, weil es eben nur mein Dilemma ist (und vielleicht das von Bulgador?) und die Autoren (oder auch andere potentielle Spieler) das Dilemma gar nicht sehen, weil eine "realistische Kletterschwierigkeit" bei Splittermond gar nicht abgebildet werden soll. Hieß es nicht an anderer Stelle beim Kampfsystem, dass es gar nicht Ziel sei, durch die Splittermond-Regeln eine realistische Kampfsimulation abzubilden? Vielleicht dann auch nicht bei den Fertigkeitsregeln? Wenn dies der Fall ist, besteht das Dilemma natürlich nicht mehr, denn der Anspruch, Zielwahrscheinlichkeiten beim Klettern abzubilden, die sich mit meinen realen Erfahrungen* decken, besteht gar nicht.
*) Andere mögen natürlich auch andere Erfahrungen gemacht haben.
Genau hier ist nämlich der Kern der Sache. Wir kommen wieder zum Realismus, und zur Frage: Wie realistisch müssen, können und sollen Regeln sein?
Wenn wir ein "klassisches" Rollenspiel designen - sprich, ein Spiel, das mit numerischen Werten und Wahrscheinlichkeiten als Entscheidungsbasis funktioniert - stehen wir immer vor diesem Problem. Und natürlich haben wir uns auch schon darüber den Kopf zerbrochen. "Realismus" klingt auf den ersten Blick objektiv - nähert man sich der Sache aber, stellt man fest, dass es mit dieser Objektivität leider nicht so weit her ist, wie man es am Anfang gedacht hat. Realismus beruht in erster Linie auf Erfahrungen - und Erfahrungen können immer variieren. Du hast ja bereits selbst geschrieben, dass andere andere Erfahrungen gemacht haben mögen - andere stufen also möglicherweise etwas anderes als "realistisch" ein als du. Ich will dir da um Gottes Willen gar nicht die Kompetenz absprechen, Kletterschwierigkeiten richtig einzuschätzen. Ich bin kein Kletterer und habe keine Ahnung.
Das Problem ist: Die Realität lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Das mag in einigen Fällen gehen, in den allermeisten Fällen jedoch sind Zahlenwerte und Wahrscheinlichkeiten in der Realität fast nicht möglich. Natürlich bietet die Statistik einige Anhaltspunkte, aber eine vollständig präzise Berechnung der Realität ist schlicht nicht möglich. Niemand kann präzise auf die Prozentzahl genau sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Weitspringer in einem Wettkampf eine bestimmte Weite springt. Wie wahrscheinlich es ist, dass der Casanova abends in der Bar Erfolg bei der einsamen Schönheit hat. Wie wahrscheinlich es ist, dass einem Anwalt vor Gericht genau der eine Präzedenzfall einfällt, den er zum Gewinn des Prozesses benötigt. Das kann man grob einschätzen. Aber in Prozentzahlen angeben? Hat der Anwalt eine Chance von 50%, oder von 55%, oder von 73%? Solche Zahlen sind in der Realität immer willkürlich.
Bei Rollenspiel-Regeln
müssen wir solche Dinge aber in Wahrscheinlichkeiten und Würfelwürfen ausdrücken. Dabei wird es immer - immer, auch bei den realistischsten Regeln - zu Diskrepanzen kommen.
Daraus folgt:
Regeln sind niemals eine präzise Abbildung der Realität. Regeln sind immer nur eine Annäherung an die Realität.Ich möchte das direkt auf ein Beispiel beziehen, das du gebracht hast:
Aus meiner eigenen Erfahrung vom Klettern jedoch weiß ich, dass es auf der Skala der Kletterschwierigkeiten auch einen Grad gibt, den ein Anfänger niemals schaffen kann, während dieselbe Schwierigkeit aber von jedem Profi immer gemeistert wird.
Kann man das so absolut sagen? Es ist hier kein Zweifel möglich? Der Profi wird eine bestimmte Schwierigkeit
immer meistern? Egal, was geschieht? Es ist
niemals denkbar, dass seine Hand abrutscht? Ein Griff sich löst, der vollkommen sicher aussah? Er sich versehentlich den Fuß umknickt, weil er abgeglitten ist? Ein Windstoß kommt, der ihn von der Felswand reißt? Er hat tatsächlich eine 100%ige Chance, es zu schaffen? Ich meine hier nicht eine "hundertprozentige Chance" wie beim Fußball, mit der man eigentlich nur ausdrücken will, dass es eine
sehr gute Chance war, sondern eine 100%ige Chance im Sinne der Stochastik, so dass kein Versagen mehr möglich ist? Oder heißt
immer meistern nicht einfach nur, dass ein Profi so eine Schwierigkeit ohne jegliche Anstrengung schafft - sofern nicht unglaubliches Pech dazu kommt?
Wie gesagt, ich klettere nicht - von daher kann ich nicht einschätzen, ob so eine Aussage wirklich möglich ist. In den allermeisten Fällen dürfte das aber nicht der Fall sein.
Für uns heißt das, dass Realismus nur eine von mehreren Variablen ist, die wir beim Regeldesign mit einbeziehen müssen. Die Regeln müssen realistisch genug sein, damit sie
glaubwürdig sind. Sie müssen aber auch
spielbar sein, ohne sich groß in ein Thema einzulesen. Und natürlich müssen sie
verständlich sein, um Spieler nicht abzuschrecken. Das ist ein Spagat, den jedes Regelwerk versuchen muss, und von System zu System sind hier die Schwerpunkte ganz unterschiedlich. Wir versuchen den
Mittelweg - Glaubwürdigkeit, Spielbarkeit und Verständlichkeit miteinander in Balance zu bringen. Dass es dabei zu Diskrepanzen kommt, lässt sich weder hier noch bei sonst irgendeinem System vermeiden.
Um deine Frage konkreter zu beantworten: Ja, es ist durchaus möglich, dass wir Abstriche im Realismus machen, um das System flexibler, verständlicher und einheitlicher zu halten. Das gilt nicht nur für die Kampfregeln, sondern auch für die restlichen Regeln.
Heißt das aber, dass sich das von dir gewünschte in unseren Regeln gar nicht abbilden lässt? Nein. Vielleicht nicht in diesen extremen Absoluten, wie du sie erwähnt hast. Aber ich denke, wir haben da einen guten Kompromiss gefunden. Ich gehe also mal näher darauf ein.
Auf dieser Grundlage folgende Überlegung: Ich stelle mir zwei Abenteurer vor, die ein Hindernis erklettern wollen. Der eine ist Anfänger, der andere Profi. Der erste hätte einen niedrigen Wert in der Fertigkeit Klettern, z.B. 1, der Profi dagegen einen Kletter-Wert nahe dem Maximum, also 15, wenn das das Maximum sein sollte.
Nun kommt es beim Klettern nicht nur auf Technik und Können an (den Wert in der Fertigkeit Klettern), sondern auch auf allgemeine Sportlichkeit, also z.B. die Attribute Stärke und Geschick. Ich gehe in meinem Beispiel davon aus, dass beide gleich sportlich sind, sich also in diesen Attributen nicht in den Werten unterscheiden, z.B. Stärke und Geschick jeweils auf 3 haben.
Nach der Formel "Attribut + Attribut + Fertigkeit + Wurf gegen eine Zielzahl" und davon ausgehend, dass es eine normale Probe mit 2W10 ist:
Anfänger: 3 + 3 + 1 + 2W10
Profi: 3 + 3 + 15 + 2W10
Für meine Überlegung ignoriere ich absichtlich die Möglichkeit von Patzern (welche die Spanne der möglichen Ergebnisse noch vergrößern würde). Der Anfänger erreicht also mit 7 + 2W10 ein Ergebnis zwischen 9 und 27, der Profi mit 21 + 2W10 ein Ergebnis zwischen 23 und 41.
Passt soweit. Tatsächlich ist das Maximum derzeit weiterhin 15.
Ein Hindernis mit dem normalen Zielwert von 20 würde heißen: Der Anfänger kann das schaffen, der Profi schafft es auf jeden Fall.
Ein Hindernis mit dem Zielwert von 10 würde heißen: Das schafft eigentlich jeder. Das wäre z.B. das Ersteigen einer Leiter.
Ein Hindernis mit dem Zielwert von 30 würde heißen: Für Anfänger nicht zu schaffen, allenfalls für Profis.
Soweit so gut, aber ein Problem habe ich beim Zielwert 25. Dies kann der Anfänger schaffen, während gleichzeitig der Profi scheitern kann. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist niedrig, aber es ist möglich.
Wie du geschrieben hast, stört es dich, dass diese Wahrscheinlichkeit besteht - dass es Proben gibt, die ein Anfänger mit extrem viel Glück schaffen kann, während der Profi sie mit extrem viel Pech verhaut.
Diese Wahrscheinlichkeit besteht (in der Theorie) tatsächlich. Der Grund hierfür ist unter anderem einfach auch der, dass wir nunmal
Spielregeln schreiben, keine statistische Betrachtung. In Spielregeln muss Spannung drin sein, und "kritische Erfolge" (ob die Doppel-1 bei DSA, die Natural 20 bei D&D oder sonstwas) sind wie "kritische Fehlschläge" einfach klassische Elemente in Rollenspielregeln. Die wollen wir auch drin haben. Das führt natürlich dazu, dass selbst der Über-Profi bei jeder Probe die minimale Gefahr eines Fehlschlages hat. Das ist aber auch schlicht eine Frage der Spannung. Dass ein Anfänger also (mit unglaublich viel Glück) dort Erfolg haben kann, wo ein Profi scheitert, ist prinzipiell gewollt.
Aber ist das in der Wahrscheinlichkeit eine relevante Größe? Oder ist das eher eine theoretische Sache? Wie sieht denn die Wahrscheinlichkeit jetzt aus?
Lassen wir kritische Erfolge und Fehlschläge wirklich erstmal weg.
Dein Beispiels-Anfänger hat einen Wert von 7 (3+3+1). Das heißt, um eine 25 zu erreichen, muss er mindestens 18 auf 2W10 würfeln.
Den Beispiels-Profi hat einen Wert von 21 (3+3+15). Das heißt, er muss mindestens eine 4 würfeln.
Daraus folgt:
Dein Anfänger hat eine Chance von 6%, die Probe zu bestehen.
Dein Profi hat eine Chance von 97%, die Probe zu bestehen.
Bei gleichen Attributen macht also allein der Fertigkeitswert hier einen Unterschied von 91% aus.
Wie groß ist jetzt die Chance, dass der Beispiel-Anfänger eine Probe schafft, während der Beispiel-Profi scheitert?
Dem Profi scheitern 3 Proben von 100. Dem Anfänger gelingen 6 Proben von 100. Das heißt, auch in den 3% der Fälle, in denen der Profi scheitert, hat der Anfänger nur eine 6%-ige Chance, das zu schaffen.
Die Wahrscheinlichkeit hierzu ist so gering (kann das jemand genau sagen, liebe Stochastik-Experten?), dass wir an dem "niemals" schon recht nah dran sind. Es ist eher eine akademische Chance.
Aber gut, das reicht möglicherweise noch nicht. Vielleicht willst du ja tatsächlich ein
niemals - also die Chance, dass der Profi, wenn schon der Anfänger eine Chance hat, es
immer schafft. Immerhin hast du noch das hier geschrieben:
Es gibt aber noch einen weiteren Punkt neben dem RealismusTM. Der ist aber noch viel subjektiver: Wenn ich einen Profi-Kletterer spiele, für den ich etliches an Steigerungs-Punkten in die Kletter-Fertigkeit gebuttert habe, fände ich es dann sehr enttäuschend, wenn die Möglichkeit besteht, von einem Anfänger, der darin nichts investiert hat, trotzdem geschlagen zu werden. Von Regelungen wie "dem Anfänger wird in diesen Fällen gar keine Probe erlaubt" halte ich persönlich nichts. Ich finde, ein gut designetes Regelwerk sollte solche Handwedelungen nicht nötig haben.
Das ist, wie du schon schreibst, natürlich ziemlich subjektiv - und es ist letztlich die Frage, ob man einem Würfelwurf eher viel oder eher wenig Bedeutung beimessen will. Das ist ja auch von System zu System ziemlich unterschiedlich. Bei einigen entscheidet der Würfelwurf über Wohl und Wehe, bei anderen sind wirklich nur die eigenen Werte ausschlaggebend. Hier muss man wieder eine zufriedenstellende Balance zwischen Spannung (und damit Unvorhersehbarkeit) und Verlässlichkeit schaffen.
Ich kann dein Problem aber nachvollziehen. Auch mich würde es stören, wenn die hart erarbeiteten Fertigkeitspunkte nichts bringen würden. Nun, zum einen verweise ich nochmal auf obige Wahrscheinlichkeiten: Deine teuer investierten Punkte hätten dir eine um 91% erhöhte Gewinnchance gebracht. Dazu kämen natürlich noch die
Meisterschaften, die dir möglicherweise noch weitere Boni geben, dich schneller klettern lassen oder sonst etwas.
Meines Erachtens ist das genug Bonus, um behaupten zu können, dass eine Steigerung sich lohnt.
Aber es gibt noch mehr: Höhere Werte geben auch generell die Möglichkeit zu mehr Sicherheit. Denn genau hier kommt der
Sicherheitswurf ins Spiel. Mit dem Sicherheitswurf kann einen Charaktere seinen Würfelwurf bewusst reduzieren - dabei aber die Gefahr eines kritischen Fehlschlages komplett eliminieren. Ist der Wert hierbei hoch genug, führt das quasi zu einem automatischen Erfolg.
Sprich: Wenn du viele, viele Punkte in deine Klettern-Fertigkeit investiert hast, kannst du dich bei üblichen Klettern-Proben einfach auf deinen Sicherheitswurf verlassen und hast damit einen Fehlschlag von vornherein ausgeschlossen, während der Anfänger immer noch würfeln (und damit zittern) muss, weil seine Werte einfach nicht hoch genug sind.
Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Regeln ist meines Erachtens genug, um einen Profi auch wirklich als Profi erscheinen zu lassen.
Natürlich gibt es immer Ausreißer - obige Chance ist minimal, aber sie ist dennoch vorhanden. Ich glaube aber, dass unser System sehr verlässliche Wahrscheinlichkeiten (und auch die Möglichkeiten, diese Wahrscheinlichkeiten weiter zu modifizieren, durch Würfelarten, Splitterpunkte und ähnliches) anbietet, die die Spannung wahren, ohne dabei zu beliebig oder zufallsbasiert zu werden.
Vielleicht stoße ich bei den Autoren damit offene Türen ein, vielleicht haben sie diese Ideen schon längst aus bestimmten Gründen verworfen, aber vielleicht... haben sie in diese Richtung auch noch nicht gedacht. Dann seht es als Anregung, liebe Regel-Autoren, die hoffentlich willkommen ist.
Anregungen sind immer willkommen. An der langen Antwort siehst du hoffentlich auch, dass wir solche Dinge auch wirklich ernst nehmen - und uns auch wirklich viele Gedanken gemacht haben. Ich wiederum hoffe, dass ich dir vielleicht ein paar von deinen Bedenken nehmen konnte
Disclaimer: Falls sich nachts um 1 in meine stochastischen Berechnungen Fehler eingeschlichen haben, bitte ich die zu verzeihen und korrigiere sie gern.