Ungewollt
Palitan, Spinnenprovinz, Zhoujiang (Hao, Luo, Ren)
Nach den Ereignissen um den Rabenmantel und den „Schatten von Palitan“ blieb der selenische Magier Gerion noch einige Zeit in der Stadt, um sich zu erholen. Ren nutzte die Gelegenheit, um sich mit dem Artefaktspezialisten auszutauschen. Sie informierte die Stadtgarde und das Kaiserliche Archiv über die Aufklärung des Mysteriums um den legendären Meisterdieb. Nach so langer Zeit brachte ihr dies aber nur ein paar lobende Worte ein.
Hao bedauerte, den Ausflug auf der Seidenstraße verpasst zu haben. Akira war in den nächsten Tagen häufig in der Botschaft seines Landes zu finden. Botschafterin Suguri hatte etliche Aufgaben für ihn. Der Jaguarkrieger Takur trainierte für die Winterspiele, wobei er sich mit einigen anderen Kämpfern zusammengetan hatte, die gemeinsam übten.
Natürlich blieb auch die große Politik nicht stehen. So dauerten die Streitigkeiten wegen der Lieferung der bei Privatleuten und Beamten beliebten, nur in der Spinnenprovinz gefertigten Geisterseide an: General Wu und Prinzessin Yi weigerten sich, die von den Triaden geforderten Preise zu zahlen, und beharrten auf den ihnen angeblich zustehenden Lieferungen. Die Triaden ihrerseits wollten sich weder mit Versprechen abspeisen lassen, noch einem der Rivalen den Vorzug geben.
Es war Wu, der in der verfahrenen Situation eine Entscheidung traf: Gegen Jahresende begannen Flugschriften mit seinem Namen in Palitan zu zirkulieren. Der Erlass verkündete, nicht hinnehmen zu wollen, dass „Verbrecher und Rebellen“ die Traditionen und Bräuche des Reiches in eine Waffe verwandelten, und ihr Treiben aus der Arbeit aufrechter Untertanen finanzierten. Fürderhin sollte die Kleiderordnung der Beamten deshalb neu geregelt werden. Das Tragen von Dienstgewändern aus Geisterseide wurde untersagt, außer wenn diese als besondere Belohnung vergeben würden. Magistrate und Mandarine sollten Gewänder aus normaler Seide tragen, Inspektoren und Sekretäre hingegen solche aus Baumwolle, Wolle und Leinen. Privatleute durften weiterhin Geisterseide tragen, mussten aber eine Erlaubnis erwerben. Vor allem aber würden auf Geisterseide bei der Einfuhr in Wus Machtbereich skandalöse Zölle erhoben werden. Zwecks Förderung der Seidenproduktion in den Provinzen des Generals sollte zudem auch die Einfuhr anderer Seiden hoch verzollt werden. Gold, Ehre und Ansehen winkten dem, der die Eier des Geisterfalters und das Geheimnis der Herstellung von Geisterseide an den General ausliefere. In Erkenntnis der düsteren und opferreichen Zeiten würden der General und seine Minister zudem alle ihre Seidengewänder der Verteidigung des Reiches spenden.
Angesichts dieser Neuigkeit fiel der Preis für Geisterseide drastisch. Bei den Händlern machte sich Unruhe breit. Vielfach vermutete man, dass der Schmuggel sowie das Fälschen von Transportdokumenten und Sondergenehmigungen rapide zunehmen würden. Manche glaubten, die Anordnung käme nicht von Wu, sondern sei eine Intrige, um seiner Wirtschaft zu schaden und die Beamtenschaft gegen ihn aufzubringen.
Luo hörte über seine Unterweltkontakte, dass weiterhin Flüchtlinge aus Zhoujiang ihr Glück im Ausland suchten, namentlich südlich des Jadebandes. Ihre Aufnahme in Kintai variierte, da einige Traditionalisten meinten, es kämen zu viele und die falschen Exilanten. In Atasato nahm man die Flüchtlinge bereitwilliger auf, doch beuteten die örtlichen „Ringe“ sie angeblich rücksichtslos aus – bis hin zur zwangsweisen Rekrutierung von Jungen und Mädchen für die Bordelle der Vergnügungsviertel. Die Flüchtlinge kamen besonders aus den umstrittenen Provinzen Zhoujiangs, aber manche flohen auch vor Wus rigider Politik oder aus den Triadengebieten.
Die Triaden sahen dies ungern, denn sie verloren so billige Arbeitskräfte und potentielle Soldaten. Einige Flüchtlinge hinterließen zudem Schulden in ihrer alten Heimat. Die verbreitete Korruption der Triaden erschwerte allerdings Gegenmaßnahmen. Zudem waren einzelne Triaden wie die 13 Blätter selbst im Flüchtlingsschmuggel tätig, wobei sie die Flüchtlinge allerdings ebenfalls ausnutzten, beraubten und in die Unfreiheit verkauften.
Die Gerüchte, dass die Kämpfe am Maishi-See bald wieder aufflammen könnten, schürten die Sorge vor weiteren Flüchtlingsströmen. Besonders die neutrale Flußdelphin-Provinz drohte zwischen die Fronten geraten: Würde Wu einrücken im seinen Einfluss nach Osten auszuweiten, die Anhänger der Prinzessin den Vormarsch des Generals stoppen wollen oder die Triaden ihre Positionen in der Kranichprovinz abzusichern versuchen? Besonders die befestigte Brücke über den Goldsandwasser-Fluss mochte leicht zum Streitobjekt werden…
Die langwierigen Recherchen der Helden im Kaiserlichen Archiv näherten sich inzwischen dem Abschluss. Im Moment versuchten sie, mehr zu Luos Schwert herauszufinden. Er hatte das Dschiahn „Vipernzahn“ vor einigen Jahren erbeutet, ahnte aber seit geraumer Zeit, dass mehr hinter der Waffe steckte.
Nach einem Tag im Archiv beziehungsweise auf den Straßen der Stadt trafen sich Hao, Ren und Luo wie so oft zum Essen in ihrem Gasthaus. Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als die Abenteurer von einem Gefühl der Bedrohung und Dringlichkeit ergriffen wurden. Ren warf einen Blick in die Geisterwelt, konnte aber nichts entdecken. Alle drei fühlten sich gen Westen gezogen. Luo und die Priesterin meinten, Seewasser zu riechen, aber auch einen stechend-modrigen Geruch. Beide vermuteten, es könne sich um eine Botschaft von Aonami handeln, der Seenymphe, die sie vor einem halben Jahr auf dem Maishi-See getroffen hatten. Die Helden rafften etwas Ausrüstung zusammen und machten sich auf den Weg.
Der wortlose Ruf zog sie zum Rand der Stadt, in das Schilf des Deltas. Die Gedankenbotschaft klang zunehmend dringlich. Bald zeigte sich, dass andere Wesen vor den Helden unterwegs waren, denn mehrere Pfade schienen durch das Schilf gebrochen zu sein. Zum Glück registrierten die Abenteurer rechtzeitig, dass sie bemerkt worden waren, bevor zwei dürre, froschartige Wesen aus dem Schilf brachen. Ren erkannte die Kreaturen als Sumpfkriecher, abscheuliche Feenwesen, sterbliche Wesen entführten und ertränkten, um ihre Eier in den Leichnamen heranreifen zu lassen.
Der Kampf war kurz aber erbittert, zumal ein dritter Sumpfkriecher hinzustieß. Luo wurde ernsthaft verletzt, doch gemeinsam gelang es den Abenteurern, die Untiere zu erschlagen.
Nach dem Ende des Kampfes trat eine weitere Gestalt aus dem Dunkel – doch diesmal war es kein Ungeheuer: Es handelte sich tatsächlich um Aonami. Die Nymphe wirkte angeschlagen und bewegte sich unsicher, ihre Schwangerschaft war deutlich fortgeschritten. Allerdings wäre ein menschliches Kind inzwischen längst zur Welt gekommen, war Aonami doch schon vor einem reichlichen halben Jahr deutlich schwanger gewesen.
Die Nymphe bat die Abenteurer um Hilfe. Sie hatte während ihrer Knechtschaft Dinge getan und Informationen weitergegeben, die sie in Konflikt mit mächtigen Feenwesen gebracht hatten. Auch ihr halbmenschliches Kind war in den Augen einiger Feen eine Abscheulichkeit, in denen anderer eine Rarität, die man sich zunutze machen konnte. Deshalb hatte sie den See verlassen müssen, doch waren ihr die Probleme gefolgt. Zudem war ihre Magie zunehmend instabil geworden. Dies mochte an ihrer Schwangerschaft liegen, oder an der Trennung von ihrem See. In ihrer Not hatte sie sich wieder an die Abenteurer gewandt. Wiewohl sie nur einige Perlen und schwarz angelaufene Silbermünzen als Lohn anzubieten hatte, waren die drei bereit zu helfen.
Zunächst einmal benötigte Aonami ein Versteck. Die Abenteurer wagten nicht, sie in die Stadt zu schmuggeln. Allzu leicht könnten sich Gerüchte ausbreiten. So beschlossen sie, die Schwangere fürs erste in die verlassene Hütte eines Fischers zu bringen, der wenige Wochen zuvor ermordet worden war und dessen Tod die Helden aufgeklärt hatten. Das Gebäude lag abgelegen, direkt am Wasser und mochte zumindest als Notbehelf dienen. Gestützt auf die Abenteurer machte sich die Seenymphe auf den Weg.
Geführt von der wildniskundigen Hao und von Luo vor neugierigen Blicken abgeschirmt, erreichte Aonami unbemerkt das Ziel. Sie wirkte unsicher, als sie die Zuflucht in Augenschein nahm. Diese war zwar vom Jadenband entfernt, doch ob jene Wesen, die die naheliegende Rauchende Seide beherrschten, der Nymphe gnädiger gesinnt waren, war unklar. Möglicherweise wegen der blutigen Vergangenheit des Ortes hatte Aonami zudem ein ungutes Gefühl. Auch war der Platz recht beengt. Die Abenteurer beschlossen, die Hütte dennoch erst einmal als Versteck zu nutzen. Sie befragten Aonami über ihre Bedürfnisse aus, wussten sie doch nur wenig über die Lebensweise von Nymphen. Wie sie erfuhren, waren diese vegetarisch und brauchte jeden Tag Zugang zum Wasser.
Eine Untersuchung durch Ren ergab, dass die Nymphe erschöpft und leicht verletzt war, ihr aber nichts Ernstes fehlte. Die Schwangerschaft verlief zwar offenkundig „verlangsamt“, doch alles sprach dafür, dass die Geburt spätestens in wenigen Wochen erfolgen würde. Die Abenteurer erfuhren von Aonami, dass Nymphen – wenn sie nicht einfach entstanden, sondern geboren wurden – im Wasser zur Welt kamen. Sie konnten dann sofort unter Wasser atmen und beherrschten intuitiv die nymphische Magie. Aonami würde zum Gebären ein großes Becken, eine Bucht, Bach oder Teich benötigen. Leider wusste sie selber wenig über Nymphenkinder, geschweige denn Mischlinge. Die Abenteurer kannten immerhin einige Sagen. Es hieß, dass Feenmischlinge meist nach der Mutter kamen. Viele Geschichten endeten tragisch. Oft lehnten beide Welten diese Kinder ab, oder sie weckten das – selten selbstlose – Interesse mächtiger Sterblicher oder Feen. Zumindest besaßen Hao und Ren als Heilerinnen Erfahrung mit Geburtshilfe. Dennoch bereitete ihnen Sorge, was sie in diesem besonderen Fall NICHT wussten.
Am nächsten Tag brachen Luo und Hao auf, um Erkundigungen einzuholen und Vorräte zu beschaffen. Ren blieb als Wache bei Aonami. Sie fragte diese über ihr Leben im Maishi-See und ihre Wassermagie aus, erzählte aber auch aus ihrem eigenen Leben und Abenteuern. Aonami hatte seit Jahren wenig Kontakt zu anderen Feenwesen gehabt – erst als Sklavin eines Sterblichen, dann, weil sie vor Ihresgleichen die Flucht ergreifen musste.
Hao recherchierte im Unggoy-Tempel. Immerhin war der Affengott ein Meister der Heilkunst. Mit Hilfe ihrer Mitpriester, am Folgetag durch Ren unterstützt, konnte Hao einige Informationen zusammentragen – auch wenn selbst die Unggoy-Kirche nur wenige Aufzeichnungen über Feenmischlinge besaß. Immerhin erfuhr Hao, dass kaltes Eisen, Spiegelglas und Salz schädlich waren, und sie las von einigen beruhigenden Kräutern. Diese würde hoffentlich zusammen mit Jiaogulan-Tee, den Ren immer parat hatte, die Geburt erleichtern. In den nächsten Tagen gelang es, die gesuchten Kräuter zu erwerben. Hao besorgte zudem einige Hilfsmittel für die Geburt und die Versorgung eines Kleinkindes. Luo suchte derweil nach einem Ersatzquartier, wobei er sich auf die „Straße der Wunder“ konzentrierte. Das Viertel galt als Sammelpunkt der Sonderlinge und exotischen Wesen. Allerdings hieß es, dass es unter den hier Lebenden auch einige sehr gefährliche Wesen gebe. Und nicht jeder Alchimist oder Forscher ging sorgsam mit seinen Geräten um oder wägte Risiken mit Bedacht ab. Luo fand die eine oder andere potentielle Unterkunft, doch keine bot ungesehen Zugang zu einer großen Menge sauberen Wassers für die Geburt. Den Abenteurern erschien es zu riskant, eine Hochschwangere weit zu transportieren oder sie in einem gemieteten Baderaum gebären zu lassen. Das Flusswasser in der Stadt selber war vermutlich zu schmutzig und zu leicht einzusehen. So entschieden sie, in der Hütte zu bleiben und diese wohnlicher zu gestalten. Luo hatte zugleich sein Kontaktnetzwerk darauf angesetzt, ob jemand Nachforschungen nach Aonami anstellte.
Ren nutzte einen ihrer Besuche in der Stadt, um eine Botschaft in die Kranichprovinz zu schicken, in der sie vor dem Nekromanten „Meister Kong“ warnte. Sie fürchtete, er könne versuchen, an das durch die Abenteurer von seinem Handlanger erbeutete Ritualhorn zu kommen, das inzwischen im Besitz des Fürstenhauses von Timog war. Der Brief ging an ihren Verwandten Ji Dao, der im Justizministerium arbeitete. Er würde hoffentlich in der Lage sein, die Nachricht weiterzuleiten und nach Kong fahnden zu lassen.
In den kommenden Tagen blieb immer eine der beiden Heilerinnen bei Aonami. So war es vor allem an Luo, Nachschub heranzuschaffen. Hao erkundete die Umgebung und suchte nach einem sicheren Ort für die Geburt. Sie fand einen von Weidenbäumen umstandenen Teich mit grünlichem Wasser voller Seerosen, der ihr geeignet schien. Die Abenteurer bereiteten den Transport der Schwangeren vor, indem sie eine Trage organisierten, die sie an Haos Zhu-Schreiter befestigen konnten. Ren und Hao rekapitulierten Hinweise für die Kinderpflege, wenngleich sich ihr Wissen natürlich auf sterbliche Kinder bezog.
Die nächsten Tage zogen sich trotz solcher Vorbereitungen hin. Aonami schien bekümmert, dass sie keine Freiheit im Wasser besaß, und auch der Austausch von Geschichten heiterte sie nur zeitweilig auf. Hin und wieder sang sie Lieder in einer fremdartigen Sprache und unterhielt sich mit Ren und Hao über ihr Kind. Ein Mädchen wollte sie Xi nennen (was „Bach“ bedeutete), einen Jungen Bian.
Die Helden richteten das Haus des Fischers etwas wohnlicher her, was den Aufenthalt erleichterte. Als Bewohner des nächsten Dorfes zufällig vorbeikamen, wimmelten die Helden sie ab, indem sie ihnen weißmachten, sie würden einen Geist austreiben.
Luo erfuhr bei einem seiner Besuche in der Stadt, dass in den Kanälen Palitans mehrmals Undare gesichtet worden waren. Er argwöhnte, dass die tierhaften Elementarwesen auf der Suche nach Aonami waren. Bald sprach sich herum, dass ein Kopfgeld auf die (lebende) Ergreifung der Undare ausgesetzt worden war. Wie Luo erfuhr, hatte ein gewisser Guo Chi das Kopfgeld ausgelobt. Der Privatgelehrte aus der „Straße der Wunder“ hatte einen zweifelhaften Ruf. Er war Experte für jenseitige Wesen, sollte jedoch bei seinen Forschungen sehr rücksichtslos vorgehen. Deshalb hatte er sich auch mit der Portalgilde überworfen, die ihm das Betreten der Seidenstraße verboten hatte. Auch mit dem Geisterministerium war er aneinander geraten. Es blieb zu hoffen, dass er nichts von Aonami erfuhr – eine schwangere Nymphe hätte ihn zweifellos brennend interessiert.
Diese doppelte Gefahr rief den Abenteurern in Erinnerung, dass mit einer geglückten Geburt Aonamis Probleme nicht vorbei sein würden. Sie würde eine Zuflucht brauchen. Eine Möglichkeit wäre, ein „herrenloser“ See oder Teich, der ihr und ihrem Kind Unterschlupf bieten würde, am besten mit einer menschlichen Siedlung in der Nähe, wo sie Hilfe für das Aufziehen eines Mischlingkindes finden konnte. Die Alternative wäre der Schutz eines mächtigeren Feenwesen oder Sterblichen. Ren beschloss, sich bei der Portalgilde umzuhören. Sie hoffte, wegen ihrem letzten Abenteuer auf dem Feenpfad etwas „Kredit“ zu haben. Außerdem war eventuell der Pfadherr der Seidenstraße (der gemeinhin als gütig galt) eine brauchbare Option. Entlang des Pfades gab es so manches Gewässer, wo eine Nymphe Zuflucht finden konnte.
Tatsächlich war die Portalgilde geradezu begierig, mehr zu erfahren – mit einem Feenwesen aus der Position der Stärke heraus zu verhandeln war natürlich verlockend. Die Pfadgelehrte Gia Zou versuchte alle Details aus Ren herauszulocken, die aber verschlossen blieb.
Glücklicherweise konnten Hao und Ren den Zeitpunkt der Geburt mit einiger Gewissheit vorausberechnen, und waren bereit, als die Wehen einsetzten. Von Hao geführt, glückte der Transport Aonamis zu der vorgesehen Geburtsstelle. Die Nymphe ließ sich nackt in das Wasser gleiten, das mit einmal glasklar wurde und von Grün in ein fast unnatürlich wirkendes Blau wechselte. Auch der Sumpfgeruch des Wassers ließ plötzlich nach. Aonami summte eine ihrer fremdartigen Melodien, während zwei Tränen wie Wassertropfen über ihre Wangen liefen. Ren und Hao verbrannten die beruhigenden Kräuter und reichten ihr Heiltee. Die einsetzenden Schmerzen ertrug die Nymphe mit beeindruckender Selbstbeherrschung. Ren und Hao schlossen sich ihr im flachen Wasser an.
Luo, der nach außen sicherte, bemerkte fast zu spät, dass die Geburt nicht ungestört verlaufen würde. Denn mit einmal erschien eine hochgewachsene, muskulöse Frau mit kurzem blauen Haar, kaltblauen Augen am Rande des Teichs, gewandet in einen grünlichen Muschelpanzer, in der Hand eine blauschwarze Klinge. Sie hätte Aonamis Halbschwester sein können, wirkte aber weitaus bedrohlicher. Mit scharfer Stimme verlangte sie von „der Ausgestoßenen“ im Namen der Herrin des Jadebandes einen Preis für das unerlaubte Betreten von deren Reich. Der verlangte Preis war das Kind.
Die Abenteurer waren nicht gewillt, dies ohne Widerstand zuzulassen, und schließlich nahm es Luo auf sich, im Zweikampf um das Kind anzutreten. Nur ein ehrenhafter Sieg würde Sicherheit für Aonami und die Abenteurer bedeuten – wenn sie die Fremde zu dritt angriffen, würde der Zorn ihrer Herrin wohl eher noch zunehmen. Luo schritt keineswegs kampfesfreudig in den Ring, sondern erst, als auch Hao sich bereit erklärte, notfalls zu kämpfen. Luo hatte einen gesunden Respekt vor übernatürlichen Gegnern, doch der Mut seiner Kameradin beschämte ihn. Xuanwo (Strudel) zeigte sich wenig beeindruckt, als Luo ihr seine Klinge und deren Verdienste im Kampf gegen übernatürliche Wesenheiten präsentierte – ihr zufolge stank die Waffe nach Echsenmagie. Ehe Luo sich stellte, rief Aonami ihn zu sich. Eine leichte Berührung der Nymphe erfrischte ihn wie ein tiefer Schluck klares Wasser. So ermutigt stellte er sich zum Duell.
Im Zweikampf erwies sich die Feenkriegerin als beeindruckende Gegnerin. Letztlich war sie jedoch den Fähigkeiten eines Splitterträgers nicht gewachsen, und gestand schwer verletzt ihre Niederlage ein. Auch Luo hatte einiges an Blut verloren. Was ihn zusätzlich beunruhigte war der Umstand, dass er kurzzeitig einige abscheuliche Bilder vor Augen gehabt hatte, was er seiner Gegnerin alles antun könnte. Allerdings waren diese Gedanken ebenso schnell und spurlos verschwunden wie sie gekommen waren.
Während am Ufer Klingen gekreuzt wurden, hatten die drei im Wasser ihren eigenen Kampf zu bestehen, denn die Geburt hatte eingesetzt. Dank Rens und vor allem Haos Hilfe verlief die Geburt glücklich, und bald hielt Aonami ihr Kind – eine Tochter mit den tiefblauen Haaren und Augen ihrer Mutter – in den Armen. Die Fremdartigkeit von Mutter und Kind wurde einmal mehr deutlich, denn es gab weder Nabelschnur noch Nachgeburt, das Fruchtwasser war blau, und das Kind konnte sowohl im Wasser als auch an der Luft atmen.
Ren überließ die weitere Betreuung von Mutter und Kind Hao und verband Luo und seine Gegnerin, der sie auch einen Heilzauber gewährte. Xuanwo nahm diesen erst nach der Versicherung an, dass keine Bedingungen daran geknüpft wären. Immer noch grimmig, Mutter und Kind mit einer Mischung aus Befremden und Abscheu musternd, gab sie Ren und Luo Auskunft über Luos Waffe. Sie wusste nichts Genaues über „Vipernzahn“, doch das „Lied“ der Klinge klang nach ihren Worten angeblich nach Drachlingen und wies nach Südosten, also gen Kintai oder Sadu. Und es war kein gutes Lied. Dies war etwas verwirrend, hatten doch frühere Recherchen nahegelegt, dass die Klinge im Guaiwulinshan-Gebirge geschaffen worden war.
Hao vergewisserte sich, dass die Herrin des Jadebandes weder gegen die Abenteurer noch gegen Aonami einen Groll hegte. Dies bestätigte Xuanwo, warnte aber, dass Sterbliche wie Jenseitige an dem Kind Interesse haben würden. Mit widerwilligem Respekt übergab sie den Abenteurern einen Beutel mit Münzen. Dann verschwand sie mit einem knappen Gruß im Wasser der Rauchenden Seide.
In den folgenden Tagen hörte Hao sich nach einem „unbesetzten“ See oder Teich um. Aonami hatte wegen ihrer schlechten Erfahrungen mit Sterblichen Bedenken, sich mit der Portalgilde zu treffen. Da die Unggoy-Priesterin aber keine geeignete Zuflucht fand, waren sie und Ren zumindest dabei behilflich, einen guten Pakt zwischen der Nymphe und der Gilde auszuhandeln, damit diese den Kontakt mit dem Pfadwächter Tenkuri vermittelte. Letzten Endes war dies vielleicht die beste Lösung, der Aonami einen Neuanfang weit weg von ihren möglichen Verfolgern bot, und unter dem Schutz eines vergleichsweise milden und gerechten Feenherrschers stellte.
***
Wenige Tage darauf waren die letzten Recherchen in den kaiserlichen Archiven zu einem Ende gekommen. Erstaunlich schnell hatten sich Informationen zu Luos Klinge finden lassen. Offenbar gehörte Vipernzahn zu einer Serie besonderer Waffen, die vor Jahrhunderten für Offiziere, verdiente Kämpfer und Agenten gefertigt worden war. Die Waffen waren in lediglich zwei abgeschiedenen Schmieden gefertigt worden. Die eine hatte wie vermutet im Guaiwulinshan-Gebirge gelegen, die zweite in den Zanshi-Bergen, einem wilden Bergland zwischen dem heutigen Sadu und Kintai. Beide Anlagen waren mindestens so alt wie die Jadekriege und zumindest bis zu Myurikos Aufstieg in Gebrauch gewesen – also insgesamt fast 200 Jahre lang.
Die Waffen waren als „Long Dschiahn“ oder „Xue Dschiahn“ bekannt gewesen, was „Drachen-„ oder „Blutschwerter“ bedeutete. Ihre Herstellung war sehr teuer und umstritten gewesen, basierte wohl auf Drachlings-Magie und hatte Blutopfer beinhaltet. Die nördliche Schmiede hatte man nach der Spaltung des Reiches auf kaiserlichen Befehl versiegelt, zu der im Zanshi-Gebirge war irgendwann der Kontakt abgebrochen. Die Helden fanden auch eine – leider nur sehr vage – Wegbeschreibung zu den Schmieden.
Die Klingen standen in dem Ruf eine Art Bewusstsein zu entwickeln. Ob sie dabei Aspekte ihrer Träger übernahmen oder diesen beeinflussten, war umstritten. Ihre Macht sollte zunehmen, je mehr Blut sie tranken. Die Verbindung mit der Klinge wurde oft durch ein besonderes Ritual gefestigt und gestärkt. Die Recherchen lieferten Bruchstücke des Rituals, es zu vervollständigen würde aber einen erfahrenen Artefaktmagier oder arkanen Schmiedemeister benötigen. Wesentlicher Bestandteil des Rituals war es, die Klinge im Blut eines überwundenen Feindes zu tränken.
In den etwa 200 Jahren der Existenz der Schmieden waren weniger als 100 Drachenklingen geschmiedet worden: Klingen verschiedener Art, aber auch Stangen- und andere Waffen. Die Schmieden hatten auch andere Artefakte und Rüstungen gefertigt, und mit der Herstellung von Metallgolemiden experimentiert. Aus dem Krieg der Zwillingskaiserinnen hatte sich eine Liste von Waffenträgern erhalten, doch nur fünf von ursprünglich um die 20 Namen waren noch lesbar:
• Odara Song, Hauptmann der Silberschwerter, hatte das Dschiahn „Drachenfang“ erhalten – mit seinem Geist hatte Luo wahrscheinlich nahe von Baoshi in der Kranichprovinz die Klingen gekreuzt.
• Tran Xue, General der Kaiserlichen Reiterei war als Träger des Huang Dao „Schwarze Flamme“ aufgelistet.
• Li Tang, Kommandant der Kaiserlichen Garde, hatte das Ju Oshu „Feuerzunge“ erhalten.
• Su Ji, die „Herrin der Bestien“, hatte das Tigerhakenschwert-Paar „Blitz“ und „Donner“ geführt.
• Shi Yao (wohl ein Kriegsname, der „Schlangendämon“ bedeutete) hatte „Vipernzahn“ getragen. Vor diesem Namen war Luo in einer Wahrsagung gewarnt worden.
Dies waren aufschlussreiche Informationen, doch das Bindungsritual zu vervollständigen überschritt vorerst die Möglichkeiten der Abenteurer. Luo überlegte, ob er die fünf Klingenträgernamen auf die Liste einer neuen Recherche setzen sollte. Doch gegenwärtig war er ziemlich mittellos, da er sich kürzlich eine hochwertige Schuppenrüstung hatte fertigen lassen. Weitere Recherchen mussten warten. Luo fragte sich, ob einige der grausamen Gedankenbilder, die ihm in letzter Zeit gelegentlich durch den Kopf geschossen waren, wenn die Klinge Blut vergossen hatte, auf deren besondere Eigenschaften zurückzuführen waren. Vielleicht hatten die ungewöhnlichen und machtvollen Gegner der letzten Monate, etwas in der Klinge geweckt…
Die Abenteurer waren zufrieden mit den erreichten Rechercheergebnissen, auch wenn Luo gerne noch mehr über die Träger der magischen Waffen erfahren hätte. Allerdings fehlte es ihm momentan etwas an Geld.