Der Frühlingspalast
Palitan, Spinnenprovinz, Zhoujiang (Hao, Ren, Luo)
Der Einsatz bei den Winterspielen hatte Hao, Takur und Akira ein gutes Stück bei der Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele vorangebracht. Der Schwertalb war inzwischen damit beschäftigt, sich eine kunstvolle mittelschwere Schuppenrüstung aus Totenerz anfertigen zu lassen, auf die er lange hingearbeitet hatte. Takur versuchte, mehr über die Magier der Zinne zu erfahren, da dass das von ihm gesuchte Artefakt sich bei diesen in Sarnburg befinden sollte.
Nicht alle Kämpfer waren nach dem Ende der Winterspiele abgereist, was sporadisch für Probleme sorgte. Die Stadtgarde war überfordert, weshalb sich Inspektor Yaogun Tran, dem die Abenteuer schon einmal geholfen hatten, an Ren, Luo und Hao wandte. Im Randgebiet der Stadt hatte es allem Anschein nach einen Überfall gegeben. Da die Spuren jedoch nicht eindeutig waren, sollten sie sich das erst einmal anschauen, bevor weitere Schritte eingeleitet und wertvolle Kapazitäten verschwendet wurden. Dieser Nebenauftrag führte die drei auf eine der Dammstraßen, die durch die nordwestlich der Metropole befindlichen Sümpfe führte.
An dem Ort des vermuteten Überfalls fanden die Helden den frischen Kadaver eines Pferdes, dem der halbe Kopf abgeschlagen worden war. Hao stellte fest, dass der außergewöhnlich wuchtige Schlag mit einer mittellangen, leicht gebogenen Klinge geführt worden war. Es handelte sich eher um ein Arbeits- als ein Reitpferd. Sattel und Zaumzeug waren einfach gearbeitet. Der Reiter war nirgends zu sehen, doch führten Spuren in den Sumpf, denen die Helden kurzentschlossen folgten. Nach einer reichlichen Stunde war in der Ferne eine Sumpfinsel auszumachen. Schon von weitem war zu erkennen, dass der Reiter dort wohl sein Ende gefunden hatte: jemand hatte eine Leiche an die Zweige eines Strauches gebunden.
Die Helden untersuchten die übel zugerichtete Leiche. Der Gekreuzigte war vor etwa einem halben Tag gestorben, und er hatte kein leichtes Ende gefunden. Der halbnackte Mann mittleren Alters wies zahlreiche Verletzungen auf. Offenbar war er gefoltert worden, bevor ein brutaler, mit großer Wucht geführter Schnitt seinem Leiden ein Ende gemacht hatte. Eine Untersuchung der Umgebung brachte einen Lederpanzer, Kleidungsstücke und ein Dao mittlerer Qualität zu Tage: um einen Raubmord handelte es sich also anscheinend nicht. Der einzige ungewöhnliche Fund war ein grünlackierter Stahlring, sehr wahrscheinlich Teil eines Kettenpanzers, den der Tote in der Hand hielt, und der nicht zu seiner Ausrüstung passte. Ren überprüfte die Gegend magisch, konnte aber keinen Hinweis auf den Geist des Toten finden. Mit ihrem grausigen Fund machten sich die Abenteurer auf den Rückweg. In der langsam einsetzenden Abenddämmerung hatte Hao Probleme, den Weg zu finden, weshalb die Helden nur langsam vorankamen. Glücklicherweise bemerkten die drei rechtzeitig, dass sie von zwei Ghulen verfolgt wurden, die vermutlich von der Aussicht auf Beute angezogen wurden. Die Untiere konnten schnell besiegt werden, und die Gruppe erreichte glücklich festen Boden.
Es ließ sich schnell ermitteln, dass es sich bei dem Toten um einen ehemaligen Teilnehmer der Winterspiele namens Kao Zhu handelte. Er kam offenbar aus dem Norden und war bei den Kämpfen weder durch seine Ausrüstung noch sein Können aufgefallen. Bemerkenswert war allerdings, dass er behauptet hatte, zusammen mit dem mysteriösen Jadedrachen – einem ehemaligen Elitekämpfer General Wus – einen Raubüberfall auf eine Karawane verhindert zu haben. Zhu war als Geleitschutz der Reisenden angeheuert worden und hätte mit seinen Schützlingen den Tod gefunden, hätte der Jadedrachen nicht eingegriffen. Diese Erzählung passte so gar nicht zu einigen Gräuelgeschichten, die über den Jadedrachen in Umlauf waren. Die Geschichte des Söldners hatte ihm nicht nur Freunde gemacht – doch war das ausreichend, seinen Tod zu besiegeln? Luo forschte auch nach Personen mit grünen Rüstungen, doch dies brachte ihn nicht weiter: da Jadeeisen ein beliebtes Material für Panzerungen war, trugen nicht wenige Streiter grünlackierte Rüstungen, die den Eindruck erwecken sollten, aus dem magischen Metall gefertigt zu sein. Natürlich besaß auch der Jadedrachen dem Vernehmen nach eine grüne Brünne. Doch warum sollte er einen „Fan“ ermorden? Für den Augenblick schienen alle Fährten zu dem Verbrechen kalt.
Die Abenteurer hatten während ihrer Recherchen zum Tempel der tausend Tore auf die finanzielle Unterstützung der Botschaft Kintais bauen können. Allerdings hatte Botschafterin Suguri Jun seinerzeit angedeutet, dass sie eine Gegenleistung erwartete. Dieser Moment war gekommen, als sie Hao, Ren und Luo – nicht aber Takur und Akira – in ihren Amtssitz einlud. Das Gespräch drehte sich zunächst um die Ergebnisse der Recherchen. Behutsam lenkte die Botschafterin das Gespräch auf die aktuellen Ereignisse in Zhoujiang, wobei sie die Positionen der Abenteurer im Bürgerkrieg sondierte. Offenbar wollte sie sichergehen, dass die drei keine Anhänger der Triaden oder General Wus waren. Hao lehnte die Triaden und den rebellischen General ab, da diese ihrer traditionellen Einstellung widersprachen. Ren und Luo machten ihre Loyalität zu den Kaiserlichen keinen Hehl, ohne allerdings zu verraten, dass sie in deren Auftrag standen. Zufriedengestellt bat die Botschafterin um die Verschwiegenheit der Abenteurer und rekapitulierte, dass der kürzliche Palitan-Besuch von Prinzessin Hui Amui, einer Tante der künftigen Kaiserin Hui Yi, einigen Staub aufgewirbelt hatte. Die als versierte Kämpferin und Diplomatin bekannte Prinzessin habe die politische Lage in den südöstlichen Provinzen sondieren wollen und auch die Botschaft von Kintai kontaktiert. Doch ihr diplomatischer Vorstoß war an Hardlinern in den Reihen der Triaden gescheitert. Nur die Abreise der Prinzessin habe die Lage beruhigt. Hao kannte noch einige zusätzliche Details zu der Prinzessin: Ihr wurden eigene politische Ambitionen nachgesagt. Es gab sogar Gerüchte über eine frühere Affäre mit General Wu, was jedoch niemand in ihrer Gegenwart zu erwähnen wagte, zumal bekannt war, dass die Prinzessin den General inzwischen abgrundtief hasste. Das verhinderte jedoch nicht, dass einige in Zhoujiang eine Ehe zwischen ihr und dem Usurpator propagierten, um die verfeindeten Parteien zu versöhnen.
Nach diesen Erläuterungen führte die Gesandte die drei Helden auf die geschmackvoll mit Ziersträuchern und Miniaturbäumen eingerichtete Dachterrasse der Botschaft, wo eine hochgewachsene, muskulöse Frau die Helden erwartete. Hao erkannte sie sofort aufgrund von Beschreibungen, und Ren hatte sie sogar schon mal kurz gesehen: es handelte sich um niemand anderen als um Prinzessin Amui höchstpersönlich. Die beiden Frauen warfen sich sofort zu Boden, gefolgt von Luo (der zudem realisierte, dass es sich bei Amui wohl um die Maskierte handelte, die er mit der designierten Fürstin Zo Zo gesehen hatte).
Während Suguri Jun die Terrasse verließ, bedeutete die Prinzessin, die es mit Förmlichkeiten nicht genau zu nehmen schien, den Abenteurern sich zu erheben. Nachdem sie die Helden noch einmal zum Stillschweigen verpflichtet hatte, erklärte sie, dass ihre Abreise eine Finte gewesen war, um Verfolger abzulenken. Tatsächlich hatte sie in der Botschaft Kintais Zuflucht gefunden. Bevor sie nun endgültig die Stadt verlassen würde, würde sie aber bei einer dringlichen Mission Hilfe brauchen. Sie versprach, dass sich dies ungeachtet der Gefahren lohnen würde. Doch da die drei Abenteurer ohnehin eher Hui-Loyalisten waren, hatte Amui ihre Unterstützung ohnehin sicher.
Das Vorhaben der Prinzessin war allerdings ziemlich kühn: Sie wollte aus dem verlassenen Frühlingspalast ein kaiserliches Siegel bergen. Die Kintarai-Botschaft wollte sich nicht durch den Einsatz eigener Agenten kompromittieren. Dies war offenbar auch der Grund, warum man Takur und Akira aus der Sache herausgelassen hatte. Akira wäre als Schwertalb politisch heikel, falls die Sache schiefgehen sollte. Und der Jaguarkrieger zog selbst in einer Stadt wie Palitan zu viel Aufsehen auf sich. Luo argwöhnte, dass die Prinzessin etwas verschwieg. Er traute sich allerdings nicht, nachzuhaken. Amui erklärte, die Ausgaben der Abenteurer ersetzen können. Falls der Einbruch in den Palast gelänge, könnten sie sich zudem aus der geheimen Schatzkammer, in der das Siegel lag, je ein Stück mitnehmen.
Ren kam auf die Idee, als Zugang zum Palast die unterirdischen Kanäle zu nutzen, welche die Versorgung Palitans mit Trinkwasser sicherstellten und Abwässer entsorgten. Amui hielt dies für eine vielversprechende Idee.
Die Abenteurer begannen mit ihren Recherchen. Der Frühlingspalast war alt und ging wohl auf Drachlingsbauten zurück. Nach deren Sturz wurde die Anlage zu einem kaiserlichen Palast, der während des Krieges der Zwillingskaiserinnen von den Anhängern der ermordeten Kaiserin Li Sao als Hauptquartier benutzt worden war. Die folgende Onshi-Dynastie hatte den Palast ausgebaut, doch nach deren Sturz war er seltener genutzt worden. Unter anderem diente er dazu, unbequeme Angehörige der Kaiserinnenfamilie komfortabel abzuschieben, aber auch als Ausbildungsort für angehende Thronerbinnen. Während des zeitweiligen Abfalls der Kranich-, Spinnen- und Katzenprovinz 896 bis 939 LZ fungierte er als Regierungssitz der Separatisten, danach war er einmal mehr meist nur Domizil von Angehörigen kaiserlicher Seitenlinien. Gegenwärtig stand der Palast leer. Einzelne Triadenangehörige hatten erwogen, die Anlage für zahlende Neugierige zu öffnen, doch das war in seltener Einmütigkeit von der angehenden Fürstin Zo Zo und My-Mei als Führerin des Handelsrates abgeschmettert worden. Einige Unbelehrbare hatten den Palast dennoch für private Feiern – oder Orgien – missbraucht und einige ambitionierte Langfinger hatten versucht einzubrechen. Beides hatte nicht gut geendet: Möchtegerneinbrecher waren verschollen, und die unrechtmäßige Nutzung hatte zu drakonischen Urteilen geführt, die teilweise auch vollstreckt worden waren. Die Sicherheit des Palastes wurde zudem nicht nur von sterblichen Wachen gewährleistet, die die Mauern und Außenanlagen patrouillierten, sondern vor allem von den Geistern kaiserlicher Elitegardisten.
Zu den Kanälen unter Palitan waren alle möglichen unerfreulichen Gerüchte über feindselige Geister, Untote und andere Monster im Umlauf. Immer wieder verschwanden Wartungsarbeiter. Die Dunkelheit der Kanäle sollte „ansteckend“ sein, so dass spezielle Schutzkleidung dringlich geraten schien – und wegkundige Führer.
Die Prinzessin war mit den zusammengetragenen Informationen zufrieden. Ein unterirdisches Vorgehen schien trotz der Gefahren aussichtsreich, und Suguri Jun war bereit, Schutzkleidung für die Abenteurer und die Prinzessin zu organisieren. Freilich schienen zwischen der Botschafterin und der Prinzessin auch gewisse Spannungen zu bestehen, auch wenn diese unterschwellig blieben.
Es war Hao, die auf die Idee kam, die „große Yia“ zu kontaktieren. Die Rattlings-Unterweltführerin rechnete es den Abenteurern hoffentlich immer noch positiv an, dass sie den Mord an einigen ihrer Leute aufgeklärt hatten. Gegen eine „kleine“ Gebühr und Hilfe bei den schwierigen Verhandlungen mit einem unkooperativen Vorarbeiter namens Bu Han war sie tatsächlich bereit, eine kompetente „Kanalläuferin“ zu kontaktieren, eine Einbrecherin namens Hachimaki.
So trafen die Abenteurer dann des Nachts in einem verlassenen Lagerhaus im Bauch des Drachen mit der Nezumi-Diebin zusammen. Offenbar verdankte sie ihren Namen, einem hellen Fellstreifen über ihren Augen, der an die in Kintai gebräuchlichen, Hachimaki genannten Stirnbänder erinnerte.
Die Verhandlungen gestalten sich schwierig. Hachimaki war bereits an einem versuchten Einbruch in den Palast beteiligt gewesen und wollte nur ungern noch einmal dorthin zurück. Sie malte ein eindrucksvolles Bild von den Gefahren im Untergrund und verlangte nach langem Feilschen immer noch eine üppige Bezahlung von fast 30 Lunaren. Sie war allerdings bereit diese zu reduzieren, falls man sie als angebliche Dienerin zu einer Vorstellung der berühmten Schauspielerin Su Su Mina mitnehmen würde. Die Abenteurer beschlossen, einen Versuch zu unternehmen. Ihre finanziellen Mittel waren begrenzt, und sie wollten auch die Hilfe der Prinzessin nicht zu sehr strapazieren.
Mit Hilfe der mit den Helden befreundeten Adelsfamilie Ka gelang es Ren, eine nicht gerade billige) Karte zu ergattern, so dass sie herausgeputzt und mit einer gemieteten Sänfte ihren Auftritt hinlegen konnte. Das Theater, ein hell erleuchtetes Pagodenhaus, bot einen prunkvollen Anblick. Ren bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, was die Einbrecherin hier vorhatte. Das Stück war wie zu erwarten ungemein rührselig und handelte von einem Liebespaar, das von einer Räuberbande bedroht wurde. Allerdings gab es Ärger, als einige Schläger der 13 Blätter die Aufführung unterbrachen und den „Helden“ verprügelten. Offenkundig hatte die Triade Anstoß an den nicht sehr subtilen Anspielungen des Stückes genommen. Ren konnte nicht rechtzeitig eingreifen und nur noch den übel zugerichteten Schauspieler verarzten. So kam der Kunstgenuss an diesem Abend leider etwas kurz. Hachimaki, die zeitweilig verschwunden war, schien aber dennoch zufrieden zu sein.
Ein weiteres Treffen bei der „großen Yia“ diente der Vorbereitung des Einbruchs. Man diskutierte die verschiedenen Optionen: die Abwasserkanäle waren schmutzig, eng und gefährlich, doch war der Zugang zu ihnen relativ einfach über Wartungsschächte möglich. Die Wasserversorgung verlief natürlich separat, hier waren die Eingänge aber besser gesichert. Zudem war der Weg dort mühsamer, da die Leitungen deutlich enger waren. Allerdings galten sie als weitaus weniger „verseucht“ mit gefährlichen Wesen und Geistern. Schließlich gab es noch die Entwässerungskanäle, die für den Fall von Überflutungen angelegt worden waren. Sie reichten nicht annähernd so weit wie die beiden anderen Systeme, galten aber als weniger gefährlich als die Abwasserkanäle und leichter bewacht als die Wasserversorgung, wenngleich durch massive Fluttore gesichert. Indes bestand gerade jetzt im Winter die Gefahr, dass sie überflutet wurden, was sehr schnell geschehen konnte. Die Helden und die Prinzessin entschieden sich für die Abwasserkanäle. Hachimaki und Luo spionierten einen möglichen Einstiegspunkt aus.
Zu nächtlicher Stunde schlichen sich die Abenteurer und die mit einem Gesichtsschal und einem breiten Hut maskierte Prinzessin zum geplanten Einstiegsort. Hachimaki knackte das Schloss der Zugangsluke. Der Gestank, welcher die Abenteurer entgegenschlug, war atemberaubend. Nur dank der Schutzmasken ließ er sich halbwegs ertragen. Im spärlichen Licht ihrer Lampen tastete sich die Gruppe die lückenhaften Trittsteine entlang. Um keinen Preis wollten sie in der grausigen Flüssigkeit in der tiefen Rinne daneben landen. Die Gänge waren meist nur einen Schritt breit. An einigen Stellen waren die Steine überflutet. Da es immer wieder Abzweigungen gab, verirrten sie sich wohl nur dank Hachimakis Erfahrung nicht, wobei Luo für den Rückweg Markierungen an den Wänden anbrachte. Ren verletzte sich durch einen Sturz leicht. An einer Stelle war der Gang eingestürzt und erzwang einen Umweg.
Es sollte den Helden indes nicht vergönnt sein, ihr Ziel ohne Komplikationen zu erreichen. Als die Helden eine der größeren Auffangkammern erreichten, verstärkte sich das Plätschern und Glucksen, und während in der Flüssigkeit – die man kaum Wasser nennen mochte – Blasen aufstiegen, formte sich eine humanoide Gestalt. Das Wesen nannte sich Zhǎozé, und behauptete als Wächter hier gebunden worden zu sein. Mit Rens Hilfe konnte Amui den Geist – nach Rens Einschätzung eine Art Fäulnis-Elementargeist – von einem Angriff abhalten, doch erwies sich das Wesen als boshaft und launisch. Es wollte die Gruppe nur für einen Kuss passieren lassen. Hao bot sich wiederwillig als erste dafür an, was ihr die tiefe Dankbarkeit der Prinzessin und Rens sicherte. Es kostete die Unggoy-Priesterin viel Überwindung, die Maske abzunehmen und die widerwärtige Berührung des Wesens zu ertragen. Doch danach konnten die Abenteurer passieren.
Kurz darauf erreichten sie den Zugang zum Palast. Unterstützt durch Haos Segenszauber gelang es Luo und Hachimaki – die den Palast nicht betreten wollte – das Schloss zu knacken. In dem schmucklosen Raum dahinter säuberten sich die Abenteurer und die Prinzessin notdürftig und legten die Schutzkleidung ab. Argwöhnisch sichernd schlichen sie los, wobei Luo – der dank seiner Magie am besten in dem Halbdunkel sehen konnte – die Spitze bildete.
Der Frühlingspalast war zwar nicht das größte und prächtigste der kaiserlichen Schlösser, gleichwohl jedoch ein beeindruckendes Bauwerk. Davon bekamen die Abenteurer allerdings wenig zu sehen, denn sie bewegten sich im „Bauch“ des Palastes: den Bereichen, wo normalerweise dienstbare Hände all die Dinge des Alltags erledigten, um die sich Höflinge und Adel nicht bekümmerten. Das hieß freilich nicht, dass die Pfade unbewacht waren: Mit einmal tauchten die durchscheinenden Gestalten der Geisterwächter auf. Doch mit beeindruckender Selbstsicherheit trat die Prinzessin ihnen entgegen, und konnte die Geister davon überzeugen, dass es ihr Recht war, hier zu sein.
Es hatte den Anschein, als wäre die Prinzessin nicht das erste Mal in den Wirtschaftsbereichen des Palastes unterwegs. Der Weg führte die Gruppe durch schlichte Korridore, versteckte Hinterhöfe und fensterlose Räume. Der Palast schien von Bewohnern verwaist. Vielerorts lag Staub, und kein Geräusch eines lebenden Wesens war zu vernehmen. Freilich galt dies nicht für die nicht-lebenden Bewohner. Noch zweimal begegneten die Abenteurer wachsamen Geisterkriegern, die sie dank der Prinzessin aber passieren ließen. Die Wachgeister waren nicht die einzigen verblichenen Seelen, die in den Gemäuern hausten. In einem kleinen Palastgarten saß eine durchscheinende Gestalt und spielte auf einer Flöte. Ren hätte gerne mit ihr gesprochen, wollte aber weder eine Verzögerung noch mögliche Komplikationen riskieren.
Schließlich erreichten die Abenteurer eine der Bibliotheken, die mit ihren zahllosen Schriftrollen und Büchern einen beeindruckenden Anblick bot. Amui interessierte sich jedoch nur für einen Wandspiegel, dessen Rahmen mit zahlreichen Tieren und Figuren verziert war. Hao, die einen heimlichen Blick riskierte, stellte fest, dass die Prinzessin die Großen Geister des Tierkreises in umgekehrter Reihenfolge berührte. Der Spiegel schwang zur Seite und enthüllte einen schmalen Gang mit holzvertäfelten Wänden. Zum Glück entdeckte Luo rechtzeitig eine den Gang sichernde Netzfalle und konnte diese blockieren. Nach nur wenigen Schritten erreichte die Gruppe eine Schiebetür. Misstrauisch geworden, untersuchten sie auch diese sorgfältig. Tatsächlich wurde die Tür durch eine Krallenfalle gesichert. Auch diese konnte mit einiger Mühe blockiert werden. Der Raum dahinter maß vielleicht sieben auf sieben Schritt, war holzgetäfelt und – wenig überraschend – fensterlos. Lampen mit leuchtenden grünen Perlen erwachten zum Leben und erhellten den Raum. Im Erdgeschoss fanden sich zahlreiche Schränke und Truhen mit Kostbarkeiten aller Art. Auf einer Empore lagerten wertvolle oder brisante Schriftstücke.
Doch etwas anderes erregte die Aufmerksamkeit der Abenteurer: Im Raum hatte sich ein hüfthohes achtbeiniges Konstrukt erhoben, einer Spinne beunruhigend ähnlich. Als es sich langsam näherte, trat die Prinzessin vor. Wohl auch, weil bisher kein Alarm durch eine Falle ausgelöst worden war, konnte sie das Wesen beruhigen, so dass es sich in einer Ecke zusammenrollte. Dennoch behielten Luo, der dem Frieden misstraute, und Hao, die schier vor Neugierde verging, die Kreatur im Auge. Die Priesterin hatte über solche permanent belebten magischen Konstrukte bisher nur Gerüchte gehört. Es schien kein simpler Golem zu sein. Vielleicht war es von einem Geist beseelt? Es handelte sich offenbar um eine Mischung aus Magie und Mechanik. Interessanterweise wies es auf der Seite ein Siegel auf, das dem auf Luos Schwert glich – war also vermutlich in derselben Schmiede geschaffen worden. Sowohl Hao als auch Luo hatten ein leicht beunruhigendes Gefühl, konnten aber keinen Finger darauflegen, was es war. Allerdings entging ihnen, dass die Prinzessin heimlich einen kleinen Gegenstand in ihrem Gewand verschwinden ließ. Ren, die dies beobachtet hatte, schwieg dazu.
Wie von der Prinzessin versprochen, durften sich die Abenteurer dann jeweils ein Stück aus der Schatzkammer aussuchen. Obwohl es sich nicht um die Hauptschatzkammer des Palastes handelte, war die Auswahl beeindruckend: ganze Rüstungssets, zahlreiche verzierte Waffen, Amulette, welche den Körper oder die Seele schützen sollten, kostbare Gewänder, Schalen voller Gold und Edelsteine…
Von der Umgebung abgelenkt und eingeschüchtert, dazu in Eile und weil sie vor den Augen der Prinzessin nicht zu gierig erscheinen wollten, nahmen sich die Abenteurer bei weitem nicht die wertvollsten Stücke: Hao wählte ein kunstvolles Spinnenseide-Gewand, Ren ein Amulett des verbannten Drachenfisch-Geistes (das einen guten Preis einbringen mochte) und Luo ein Rundschild. Ehe die Gruppe die Schatzkammer verließ, intonierte Amui feierlich „Wir werden zurückkehren!“ Ren bekräftigte, an diesem Tag der Prinzessin zur Seite stehen zu wollen. Der Rückweg durch den Palast verlief ohne Komplikationen.
Am Eingang zu den Abwasserkanälen zogen die Abenteurer wieder die Schutzkleidung an und stießen zu Hachimaki, die nervös auf sie gewartet hatte. Gemeinsam pirschten sie durch die stinkenden Röhren zurück – wobei Ren sich einmal mehr nicht sehr geschickt anstellte. Der Fäulnisgeist zeigte sich diesmal nicht, wofür alle dankbar waren. Doch damit hatte die Glückssträhne ihr Ende: in einer der größeren Kavernen zeichneten sich einmal mehr Bewegungen im „Wasser“ ab, als sich irgendetwas Größeres näherte. Luo sprang zwischen die Prinzessin und die potenzielle Gefahr, und im nächsten Moment durchbrach der fast einen Schritt messende Schädel eines untoten Krokodils die Oberfläche. Es entbrannte ein hitziger Kampf, in dem die Abenteurer durch die schlechten Sichtverhältnisse, das halbhohe „Wasser“ und den schlüpfrigen Untergrund behindert wurden. Amui demonstrierte, dass sie sich selber beschützen konnte, und sprang Luo zur Seite. Die Klingen der beiden hatten Mühe, den festen Panzer zu durchdringen, und Luos Klinge nahm bei einem unglücklichen Hieb sogar Schaden. Dennoch teilten sie unterstützt durch Haos Kampfstab gut aus. Ren konnte einen mörderischen Biss der Bestie dank ihrer Zauberkunst abmildern, der dennoch Luo ernsthaft verletzte. Schließlich konnte das Untier erschlagen werden, und die Helden sahen zu, die Abwasserkanäle eiligst zu verlassen.
Alle waren froh, der Unterwelt entkommen zu sein. Hachimaki, die sich aus allen Unannehmlichkeiten herausgehalten hatte, verabschiedete sich mit einer launigen Bemerkung (wieder auf Luos Kosten, den sie die ganze Zeit mit Anzüglichkeiten gestriezt hatte).
Die Prinzessin würde vor ihrer Abreise noch einige Zeit in der Botschaft verbringen und die Abenteurer kontaktieren, wenn sie Hilfe benötigte.
Wohl auch dank der Fürsorge Rens blieb Luo von einer Infektion seiner Wunde verschont, hatte allerdings einen neuen Satz Narben vorzuweisen. Auch Hao überstand den ekelerregenden „Kuss“ des Fäulnisgeistes ohne Folgen. Ren hoffte, den Kontakt zu der Prinzessin aufrecht zu erhalten, war diese doch eine ihrer Heldinnen. Wenn sie die Stadt verließ, würden die Abenteurer bereit sein, ihr zu helfen – wann gab es schon einmal die Gelegenheit, eine Prinzessin zu beeindrucken?
Parallel zu dem Einbruch hatte sich Luo bemüht, weiter dem Mordfall am Stadtrand nachzugehen, kam er indes nur sehr mühsam voran. Erst nach dem Einbruch hatten seine Nachforschungen doch noch Erfolg. Kao Zhu hatte wohl wegen seiner Geschichte über den Jadedrachen Streit mit Angehörigen der „13 Blätter“-Triade gehabt. Andere Teilnehmer der Winterspiele waren ihm beigesprungen, und ein Kampfwächter hatte den drohenden Kampf geschlichtet. Allerdings hatte seine Geschichte auch an anderer Stelle für Aufsehen gesorgt: Zhu war vom Justizministerium eingestellt worden, das ebenfalls den Jadedrachen suchte, war aber dort nie erschienen. Es schien allerdings unwahrscheinlich, dass die Beamten oder die 13 Blätter etwas mit dem Mord zu tun hatten. Jedoch stellte sich heraus, dass auch noch andere sich nach Kao Zhu erkundigt hatten. Die Beschreibung der Fragenden variierte. Vielleicht handelte es sich stets um dieselbe Person, die sich magisch getarnt hatte? Dank intensiver Nachfragen, fand Luo doch noch einen verlässlichen Augenzeugen, der einen älteren Mann beschrieb, auf den ebenso beunruhigend wie überraschenderweise die Beschreibung des Nekromanten Kong zu passen schien, mit dem die Helden bereits zusammengestoßen waren. Weilte der Schwarzkünstler noch immer in Palitan?
Luo informierte seine Mitstreiter und die Behörden, auch wenn letztere skeptisch schienen. Was mochte das Interesse der Nekromanten bedeuten? Kong war bisher eher an magischen Geheimnissen interessiert gewesen. Spürte er Zhu wegen dessen Kontakt mit dem Jadedrachen nach? Oder wusste er etwas über Zhus Mörder, dass niemand anderes entdeckt hatte? Auf diese Fragen gab es fürs erste keine Antwort…