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Abenteuer und Kampagnen / Re: [Spielbericht] Abenteuerkampagne in Takasadu (Enthält Spoiler)
« am: 23 Aug 2025, 12:52:22 »
Die weiße Frau (Teil 1)
Atasato (Hao, Ren und Luo)
Die Schatzsuche nach den Hinterlassenschaften des Sammlers Zakur Saburo und die Untersuchung der Beute hatten die Abenteuer beschäftigt gehalten. Dies galt besonders für Ren, die von Gedankenfetzen des dracurischen Seefahrers heimgesucht wurde, dessen Erinnerungen in einem der gefundenen Gedankenkristalle gespeichert gewesen waren. Sie tat ihr Bestes, die Informationen festzuhalten. Zudem bemerkte sie während der Arbeit mit den Aufzeichnungen von Zakur Saburo, dass sie ein Verständnis für die Sprache und Schrift der Drachlinge zu entwickeln begann.
Hao war unterdessen mit Heilung eines prachtvollen Zwerg-Simurghen beschäftigt, der die „Seidene Stadt“ auf ihrer Reise nach Senrai begleiten sollte. Trotz ihres Erfolgs vertrug der Vogel das feuchte Klima in Nordkintai nicht gut. Hao hoffte, die Reise in die Hauptstadt würde ihm helfen. Die Unggoy-Priesterin zögerte weiterhin, Rens Drängen nachzugeben und sich als Propagandistin für die Streitmacht von Prinzessin Hui Amui zu betätigen. Sie hatte in den letzten Tagen und Wochen gelegentlich von Xiao Houzi geträumt, ihrem seltsamen Priesterkollegen, dem sie schon zweimal begegnet war. In diesen Träumen hatten sie sich über ihre Abenteuer ausgetauscht und ein paar Partien Brettspiele gespielt. Sie war sich nicht ganz sicher, inwieweit das wirklich „nur“ Träume waren. Takur war sich noch immer über seine nächsten Schritte unsicher, und Akira konzentrierte sich auf die näher rückende Abreise der „Seidenen Stadt“.
Luo und Ren hielten unterdes Kontakt zu Hui Amui. Die Prinzessin war damit beschäftigt, die Bergung und den Einsatz von Zakur Saburos Golem zu planen. Sie (und Ren und Luo) wussten, dass sie sich keine Freunde bei den in Atasato operierenden Triaden gemacht hatten und waren vor einer möglichen Vergeltung auf der Hut. Die Position der „13 Blätter“ war erschüttert worden. Möglicherweise auch deshalb kursierten nun Gerüchte, die Ren und Luo als Handlanger der Kintarai diffamierten.
Die Gerüchteküche brodelte weiterhin bezüglich der Ereignisse in Zhoujiang. Diesmal ging es um angebliche Eheprojekte General Wus. Es hieß, er habe um die Hand von Liu Luli angehalten, der Fürstin in der Kranichprovinz, oder wolle gar Prinzessin Hui Yi oder eine ihrer Angehörigen ehelichen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Andere behaupteten, Wu wolle stattdessen seine eigene Dynastie begründen, indem er den in seiner Hand befindlichen Prinzen Hui Han oder Djian Tsao, seine getreue Militärmandarin, adoptierte und zu seinem Erben erklärte. Andere meinten, Wu wolle Djian Tsao heiraten. Dann wieder hieß es, der General habe vor, Prinz Hui Han wahlweise mit Fürstin Liu Luli, der designierten Fürstin Zo Zo von Palitan oder gar der Vorsteherin des Händlerrates My-Mei zu verkuppeln, um die Kranich- oder Spinnenprovinz zu gewinnen. Keiner der Abenteurer gab viel auf diese Geschichten.
Ernster erschienen die Gerüchte von zunehmenden Kampfhandlungen auf dem Maishi-See, von Kämpfen mit den Jogdaren, aber auch Unruhen in der zum Einflussbereich der Prinzessin gehörenden Phönix- oder Tigerprovinz. Ähnliches galt für die Schaffung einer neuen Reiterarmee durch General Wu, bestehend aus jagodischen, dalmarischen und farukanischen Söldnern. Diese einige hundert (glaubhaft) oder gar mehrere tausend Streiter starke (eher unwahrscheinlich) Formation wurde in Kintai als Armee der südlichen Barbaren oder Nanban-Armee bezeichnet, doch General Wu nannte sie die Tianma, die „himmlischen Pferde“.
Dass die Abenteurer sich inzwischen einen Namen gemacht hatten, bewies sich, als sie eine Einladung von Madame Jiao erhielten. Die bekannte Kurtisane war Palitanerin, weilte jedoch jedes Jahr für einige Monate in Atasato, wo sie einen erlesenen Kundenkreis aus Angehörigen der Handelselite und dem kintaraischen Adel hatte - darunter angeblich auch Generalin Ranku Kane. Dies war umso beeindruckender, als Jiao zwar Albin, aber eine Ausländerin war. Wenig überraschend hielten manche sie für eine Spionin Palitans oder glaubten, sie spioniere umgedreht IN Palitan für Kintai. In jedem Fall war sie in der High Society wie der Halbwelt beider Städte bestens vernetzt. Die Einladung galt für ein Treffen in der „Seidenfalterpagode“, einem Vergnügungspalast der besseren Sorte, an dem Jiao Anteile besaß. Es war eines der Häuser, wo die Bezahlung oft über „Geschenke“ geregelt wurde und die „geschäftlichen Arrangements“ teilweise über Monate oder länger Bestand hatten. Luo war etwas nervös wegen der starken Position der „13 Blätter“ im Vergnügungsviertel, doch natürlich würde er Hao und Ren begleiten.
Das mehrstöckige Gebäude lag am Rande des Vergnügungsviertels und verfügte über einen gepflegten Garten. Überall schwebten seidene Schmetterlinge, die an dünnen Bändern befestigt waren, im Wind tanzten und ein leises Rascheln erzeugten. Die Bediensteten – viele von ihnen zhoujiangischer Herkunft – waren zumeist sehr hübsch, unter dem Hilfspersonal waren auch viele Jungen und Mädchen.
Der Argwohn Luos wurde noch gesteigert, als man die Abenteurer aufforderte, ihre Waffen abzugeben. Allerdings wäre ein Anschlag in einem so bekannten Haus recht gewagt gewesen, und Hao und Ren waren dank ihrer Magie auch unbewaffnet nicht wehrlos. Aber die drei waren doch zurückhaltend, die angebotenen Erfrischungen anzunehmen, während sie warteten, zu Madame Jiao vorgelassen zu werden.
Die Kurtisane empfing die Helden in einem Zimmer im dritten Stock, das einen guten Blick auf den Garten bot. Ihre kostbare Kleidung und ihre verschlungen Tätowierungen in Form von Drachen, Schlangen oder Fischen (?), die sich zu bewegen schienen, verliehen ihr eine beeindruckende, vielleicht auch ein klein wenig beunruhigende Aura. Nach kurzem Smalltalk, bei dem sie die Fähigkeiten der Abenteurer lobte, sich in besserer wie zwielichtiger Gesellschaft zu bewegen, kam sie zur Sache. Sie wünschte diskrete Hilfe: Bedauerlicherweise sei ein Geldgeber des Hauses vor einer Woche im Vergnügungsviertel ermordet worden. Es handelte sich um Shigamura Nobutaro, ein Mitglied der heimischen Händlerkaste. Er war weniger Selfmademan als Erbe des Vermögens seines Vater Shigamura Nabutada, der mit dem Sarnburg-Handel über die Seidenstraße reich geworden war. Nobutaro hatte das Vermögen investiert, unter anderem in mehrere Objekte im Vergnügungsviertel. Jiao wünschte eine Ermittlung, ohne dass ihr Name als Auftraggeberin genannt wurde. Die Abenteurer sagten zu, ohne um ihre Belohnung zu feilschen. Sie gingen davon aus, dass der Einfluss einer Frau wie Jiao nützlich sein konnte, und hatten auch nicht viel Vertrauen in die einheimischen Behörden.
Nobutaro hatte wegen seiner Verbindungen zum Vergnügungsviertel auch Kontakte mit den Triaden gehabt, namentlich zu den „13 Blättern“, obwohl er sie verachtete. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Ehefrau Eiko gehörte ebenfalls einer Händlerfamilie an. Jiao wusste sonst wenig über sein Privatleben, auch von Feinden war ihr nichts bekannt. Sie hatte den Tatort nicht gesehen und wusste auch keine Details – nur, dass es keine saubere Sache gewesen war. Die Helden fragten im Pavillon noch etwas über das Mordopfer herum. Nobutaro hatte das Haus gelegentlich besucht, um zu trinken, zu spielen (wobei er mehr verlor als gewann), und auch andere…Vergnügungen…in Anspruch zu nehmen. Allerdings hatte er unter den Angestellten einen schlechten Ruf. Sein Verhalten hatte Grenzen überschritten, für die man einem normalen Besucher die Tür gewiesen, und vermutlich auch langfristig die Rückkehr verwehrt hätte.
Es war schon spät am Abend, doch die Abenteurer wollten sich noch den Tatort anschauen. Hao und Luo waren dank ihrer Magie in der Lage, auch im Dunkeln gut zu sehen. Geführt von Luo fanden sie schnell den Ort des Geschehens. Natürlich waren alle Spuren bereits kalt, und was sich an Fußabdrücken in der Seitengasse verewigt hatte, bot keinen hilfreichen Hinweis. Es war eine ziemlich trostlose Umgebung – eine schmale Gasse, auf der einen Seite ein Lagerhaus, auf der anderen die Rückseite einer Sakeschänke. Was hatte der Tote hier gemacht – war er vielleicht hergelockt worden? Trotzdem die Tat schon eine Woche zurücklag, fanden sich noch immer Blutspritzer. Offenkundig war der Angriff überaus brutal erfolgt, zunächst als das Opfer stand. Möglicherweise war schon dabei ein tödlicher Treffer erzielt worden, doch der Täter hatte nicht vom Opfer abgelassen, als es lag. Dies deutete auf persönlichen Hass hin – oder jemand wollte zumindest den Eindruck erwecken. Ren wob einen Zauber, um Geister aufzuspüren, doch es gab keine Anzeichen jenseitiger Wesen in der Nähe. Man würde auf klassische Art und Weise ermitteln müssen.
Dies geschah am nächsten Tag, wobei sich Luo mit seinen guten Straßenkontakten bewährte. Er erfuhr, dass Überfälle im Vergnügungsviertel eigentlich kein Problem waren. Gerade wohlhabende Kunden wie Nobutaro waren normalerweise sicher, da die Beute den potentiellen Ärger kaum wert war. Die Einheimischen schoben die grausame Tat auf eine Privatfehde oder geschäftliche Konflikte. Die Leiche war von einem Bettler gefunden worden, den die Behörden umgehend festgesetzt hatten – als Zeuge oder als potentiellen Verdächtigen/Sündenbock. Man trauerte dem Toten nicht nach, da er als gefährlich galt, besonders für junge Frauen. Es war bekannt, dass er mit den „13 Blättern“ Kontakte gehabt hatte. Allerdings herrschte Uneinigkeit, ob Nobutaro mit ihnen Geschäfte machte oder in Streit mit der Triade lag. Ein Name, der mehrfach auftauchte, war Maeda Nagato, der Betreiber des Spielhauses/Bordells, mit dem Luo einige Wochen zuvor eine unerfreuliche Begegnung gehabt hatte.
Die Abenteurer beschlossen, die Familie des Toten zu kontaktieren. Sie hofften, so neben Informationen einen „offiziellen“ Auftrag zu erhalten, hatte die Kurtisane sie doch um Verschwiegenheit gebeten. Nabutaro hatte in einem besseren Viertel Atasatos gelebt. Es kostete Hao und Ren etwas Mühe, ein Gespräch mit der Witwe zu arrangieren. Sie war mit Mitte Dreißig deutlich jünger als ihr zwanzig Jahre älterer Ehemann. Eiko war misstrauisch, doch gelang es Hao, sie zu überzeugen. Im Grunde hatte sie ähnliche Motive wie Jiao, da sie Schande und Schaden von ihrem Haus abhalten wollte. Sie hatte um die Ausflüge ihres Mannes in das Vergnügungsviertel gewusst. Die Beziehung der Eheleute schien nicht die engste gewesen zu sein. Von Feinden und Rivalen wusste Eiko nichts. Sie misstraute Nobutaros Kontakten zu den „13 Blättern“. Ihr Ehemann hatte Leibwächter beschäftigt, sie aber auf seinen Besuchen im Vergnügungsviertel nicht mitgenommen. Sie bestand darauf, dass Luo sich aus dem Zimmer entfernte, als sie mit Hao und Ren weitere Details besprach. Offenbar wusste sie um die zweifelhaften sexuellen Neigungen ihres Ehemanns und legte begreiflicherweise wenig Wert darauf, dass diese bekannt würden. Bei seinen Geschäften hatte er letztlich leine glückliche Hand gehabt. Sie gestatte den Abenteurern, sich im Arbeitszimmer des Toten umzusehen.
Luo fand dort eine gute versteckte Sammlung anrüchiger Zeichnungen, die mit Dingen wie Fesselungen und ähnlichen Vorlieben zu tun hatten. Die Abenteurer argwöhnten, dass der Tote noch düstere Geheimnisse verbarg. Luo beschloss die Bilder zu entfernen – einerseits war der Familie nicht gedient, wenn sie diese fanden, andererseits hoffte er, vielleicht den „Künstler“ oder Verkäufer ermitteln zu können. Hao ging mit Rens Hilfe die Geschäftspapiere durch. Offenbar war die Seidenfalterpagode nicht die einzige Investition Nabutaros im Vergnügungsviertel gewesen. Auch Maeda Nagatos Spielhaus/Bordel hatte dazu gehört, und die beiden hatten wohl auch illegale Geschäfte gemacht. Es lag nahe, dass der Tote auch in den Menschenhandel involviert gewesen war. Allerdings hatte Nagato ihn anscheinend übervorteilt oder die Geschäfte waren nicht gut gelaufen. Es fanden sich zudem Hinweise, dass Nobutaro mehrere Beamte in der Tasche gehabt hatte.
Auf Luos Anregung unterhielten sich die Abenteurer noch mit dem Leibwächter Nobutaros. Dieser, ein kräftiger Mensch namens Ito, hatte freilich wenig zu erzählen. Der Meister war in letzter Zeit etwas paranoid gewesen und hatte seinen zweiten Leibwächter entlassen, weil er ihm nicht mehr traute. Dass er sich dennoch hatte in die Falle locken lassen, war merkwürdig. Allem Anschein nach war es auch finanziell nicht mehr so gut gelaufen, auch wenn die Familie von Armut weit entfernt war. Über mögliche direkte Feinde wusste Ito nichts.
Am dritten Tag der Ermittlungen stand eine Kontaktaufnahme mit den Behörden auf dem Programm. Wie die Abenteurer dank Luos Kontakte erfuhren, verfügte das Vergnügungsviertel wie jeder Bezirk Atasatos über eine eigene Wachstube. Diese Stationen waren für die allgemeine Ruhe und Ordnung zuständig, gingen gemeldeten Unregelmäßigkeiten nach und fungierten als Überwacher für Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen. Sie waren jeweils mit einigen Wachleuten und ein oder zwei niederen Beamten besetzt. Schwerwiegende Vorfälle wurden nach oben weitergemeldet, woraufhin der fürstliche Hof einen höheren Beamten abstellen konnte.
Da anzunehmen war, dass die Sicherung des Tatorts in den Händen der örtlichen Station gelegen hatte, beschlossen die Abenteurer, diese zuerst zu kontaktieren. Es hieß freilich, dass die Männer und Frauen zusätzlichen „Anreizen“ nicht abgeneigt waren und Kontakte zum organisierten Verbrechen hatten. Leiter der Dienststelle war gegenwärtig ein Schwertalb namens Midori Kunji. Für die Ermittlungen hatte der Fürstenhof Watada Hideori abgestellt. Dieser galt als korrekter, vielleicht etwas steifer Beamter. Er hatte schon mehrere Fälle gelöst und besaß Kontakte bei Hofe wie bei den Handelsherren. Generell galt er als niemand, der nur nach einfachen Lösungen suchte.
Ren und Hao konnten ein Treffen mit Kunji arrangieren. Ebenso verabredeten sie sich mit Toba, einem menschlichen Wachmann, der beim Fund der Leiche zugegen gewesen war. Sie wollten sie außerhalb der Dienstzeiten in einem Restaurant bzw. einer Sakeschänke treffen, was natürlich bereits eine dezente Form der Bestechung darstellte.
Bis zu den Treffen am späten Nachmittag war noch Zeit. Hao beschloss, bei Maeda Nagato vorbeizuschauen. Das Spielhaus/Bordell des Triadenkontakts des Mordopfers war deutlich „rustikaler“ als die Seidenfalterpagode: hier wurde viel offener getrunken (und andere Dinge konsumiert), gespielt und diversen Vergnügungen nachgegangen. Ren blieb dem Treffen fern, da sie annahm, sie und Luo hätten sich bei den „13 Blättern“ mit ihrem Vorgehen gegen den Menschenhandel unbeliebt gemacht. Leider machte dies keinen Unterschied. Hao eckte mit ihren Fragen sofort an. Sie wurde unsanft hinausgeworfen und dabei auch noch bestohlen. Hao konnte die Beschatter abschütteln, die man ihr hinterhergeschickt hatte, doch jede weitere Befragung war dadurch erst einmal unmöglich.
Das Treffen mit den Beamten lief besser. Die Abenteurer erfuhren, dass Nobutaro die Kehle durchgeschnitten und er zudem kastriert worden war. Offenbar hatte man auch all seine Habe und Kleider entwendet. Solche Gewalt war im Vergnügungsviertel extrem selten – zumindest gegen begüterte Kunden. Die Verstümmelung deutete auf starken Hass und auf eine Verbindung mit den „Vorlieben“ des Toten hin - oder jemand wollte diesen Eindruck erwecken. Die Leiche war von einem Säufer namens Ru gefunden worden, einem ehemaligen Seemann. Er war zutiefst erschüttert gewesen und hatte wirres Zeug von einem „Leichentuch“ gefaselt. Hideori hatte den Zeugen festgesetzt. Der Tote sei nicht beliebt gewesen, aber nicht so verhasst, dass seine Ermordung zu erwarten gewesen wäre.
Als die beiden Frauen nach den Gesprächen ihrem Quartier zustrebten – einem Gasthaus in einem Viertel mit hohem Anteil zhoujiangische Exilanten – meinte Hao, aus den Augenwinkeln einen Verfolger zu bemerken. Ren hatte zwar nichts gesehen, aber durch das vorherige Gespräch misstrauisch geworden, wirkte sie umgehend Magie. Ein Blick in die Geisterwelt ließ sie erkennen, dass ein Todeswesen nahe war. Sie versuchte es durch „Geisterhaftes Leuchtfeuer“ anzulocken, doch die Verbindung wurde unterbrochen. Sie nahm an, dass der Geist sich der Anziehung widersetzt, oder ein beschworenes Todeswesen sich ihr auf Befehl seines Meisters entzogen hatte.
Am nächsten Morgen bereiteten sich Ren und Hao auf das Gespräch mit Watada Hideori vor. Beide legten formelle Kleidung an, und dank des diplomatischen Geschicks der Unggoy-Priesterin gelang es ihnen, vorgelassen zu werden. Hideori war keine besonders auffällige Erscheinung. Er achtete auf ein gepflegtes, aber nicht extravagantes Auftreten. Das schmale Gesicht wies die klassischen Züge kintarischer Alben auf, nur seine Frisur war sehr kunstvoll. Er begegnete den Abenteurern misstrauisch und ließ seine Sekretärin überprüfen, ob sie wirklich einen Auftrag der Familie des Toten besaßen. Offenbar hatte er Zweifel, ob ihre Motive mit den seinen übereinstimmten. Doch schließlich kam man auch dank des guten Rufs der Abenteurer überein, zu kooperieren. Die Information der Abenteurer, dass ein Geist auf die eine oder andere Weise involviert war, schien ihn in jedem Fall zu überraschen, auch wenn er das gut verbarg. Hideori schien ein Skeptiker gegenüber dem Übernatürlichen zu sein. Er hatte gleichwohl Tatort und Leichnam auf Zauberei überprüfen lassen, und tatsächlich entsprechende Hinweise gefunden – leider zu schwach, um sie zuzuordnen. Dem Opfer war die Kehle von hinten mit einem einzigen Schnitt durchtrennt worden, wobei er keinerlei Abwehrversuche unternommen hatte. Die Wunde hatte ihn mit Sicherheit daran gehindert zu schreien, doch war erstaunlich, dass der Angreifer oder die Angreiferin so nahe hatte herankommen kommen können. Auffällig war, dass man neben der nackten, verstümmelten Leiche eine vertrocknete weiße Chrysantheme gefunden hatte, die der Beamte aufgehoben hatte. Es war vermutlich eine Botschaft. allerdings war die Chrysantheme eine vieldeutige Blume – sie fand bei Beerdigungen Anwendung, stand aber auch für den Adel oder die Wiedergeburt. Und schließlich – wie Hao später herausfand – gab es ein sehr teurer Getränkt, das im Vergnügungsviertel ausgeschenkt wurde und Chrysanthemen enthielt. Zudem gab es einige Kurtisanen, die sich nach den Blumen benannten – von einer „weißen Chrysantheme“ wusste allerding niemand etwa.
Hideori erlaubte den Abenteurern, mit Ru zu sprechen, den er in der Quarantänestation des Hafens untergebracht hatte. Auf dem Weg dorthin wurden sie von einer Frau beschattet, offenbar einem niedrigrangigen Mitglied der „13 Blätter“. Luo verscheuchte sie ohne größere Mühe, blieb aber wachsam.
Der Zeuge war auf der Quarantänestation offenbar alles andere als beliebt, da er nur Ärger machte. Ru war ein Zwerg, der nicht nur ziemlich verlebt wirkte, sondern auch unter erheblichen Stress, ja Angstzuständen litt. So ließ er mit dem ersten Anzeichen der Dunkelheit stets ein Licht in seinem Zimmer brennen. Es kostete Hao und Ren einige Mühe, ihn zum Reden zu bringen, und auch dann blieben seine Angaben wirr. Ru erzählte, er habe das Opfer die Gasse betreten sehen. Bei ihm sei jemand gewesen, und doch auch wieder nicht. Ru habe etwas gehört, und doch zugleich nichts gehört, und als er die Gasse betrat, war da ein Leichentuch über dem Toten, und doch zugleich nicht. Seitdem glaubte er sich aus den Schatten beobachtet, doch da sei niemand…
Ren besaß einige Kenntnisse über derlei Dinge. Was auch immer dem Seemann begegnet war, musste wahrhaft furchteinflößend gewesen sein. Das schreckliche Antlitz eines Gamji oder ein mächtiges Feenwesen mochte solche Auswirkungen haben. Mächtige Feenmagie oder Zauberei mochten zudem seine Sinnesverwirrung erklären.
Alles in allem vereinte das Verbrechen Elemente, die nicht recht zueinander zu passen schienen. Die magischen Elemente kontrastierten mit dem Diebstahl der Kleider und Besitztümer des Toten, und die meisten Geister töteten blutärmer und verstümmelten ihre Opfer nicht derart brutal.
Die Abenteurer stellten sich auf jeden Fall darauf ein, dass auch sie in Zukunft nicht nur von den „13 Blättern“ beschattet werden mochten. Sie überlegten, ob man bei den Hehlern Atasatos nach den Habseligkeiten des Toten suchen könnte, machten sich aber nicht zu viel Hoffnung. Luo regte an, Madame Jiao vom Stand der Ermittlungen zu informieren und suchte die Seidenfalterpagode auf, wobei er auf mögliche Verfolger achtete. Allerdings war die Auftraggeberin gerade abwesend.
Atasato (Hao, Ren und Luo)
Die Schatzsuche nach den Hinterlassenschaften des Sammlers Zakur Saburo und die Untersuchung der Beute hatten die Abenteuer beschäftigt gehalten. Dies galt besonders für Ren, die von Gedankenfetzen des dracurischen Seefahrers heimgesucht wurde, dessen Erinnerungen in einem der gefundenen Gedankenkristalle gespeichert gewesen waren. Sie tat ihr Bestes, die Informationen festzuhalten. Zudem bemerkte sie während der Arbeit mit den Aufzeichnungen von Zakur Saburo, dass sie ein Verständnis für die Sprache und Schrift der Drachlinge zu entwickeln begann.
Hao war unterdessen mit Heilung eines prachtvollen Zwerg-Simurghen beschäftigt, der die „Seidene Stadt“ auf ihrer Reise nach Senrai begleiten sollte. Trotz ihres Erfolgs vertrug der Vogel das feuchte Klima in Nordkintai nicht gut. Hao hoffte, die Reise in die Hauptstadt würde ihm helfen. Die Unggoy-Priesterin zögerte weiterhin, Rens Drängen nachzugeben und sich als Propagandistin für die Streitmacht von Prinzessin Hui Amui zu betätigen. Sie hatte in den letzten Tagen und Wochen gelegentlich von Xiao Houzi geträumt, ihrem seltsamen Priesterkollegen, dem sie schon zweimal begegnet war. In diesen Träumen hatten sie sich über ihre Abenteuer ausgetauscht und ein paar Partien Brettspiele gespielt. Sie war sich nicht ganz sicher, inwieweit das wirklich „nur“ Träume waren. Takur war sich noch immer über seine nächsten Schritte unsicher, und Akira konzentrierte sich auf die näher rückende Abreise der „Seidenen Stadt“.
Luo und Ren hielten unterdes Kontakt zu Hui Amui. Die Prinzessin war damit beschäftigt, die Bergung und den Einsatz von Zakur Saburos Golem zu planen. Sie (und Ren und Luo) wussten, dass sie sich keine Freunde bei den in Atasato operierenden Triaden gemacht hatten und waren vor einer möglichen Vergeltung auf der Hut. Die Position der „13 Blätter“ war erschüttert worden. Möglicherweise auch deshalb kursierten nun Gerüchte, die Ren und Luo als Handlanger der Kintarai diffamierten.
Die Gerüchteküche brodelte weiterhin bezüglich der Ereignisse in Zhoujiang. Diesmal ging es um angebliche Eheprojekte General Wus. Es hieß, er habe um die Hand von Liu Luli angehalten, der Fürstin in der Kranichprovinz, oder wolle gar Prinzessin Hui Yi oder eine ihrer Angehörigen ehelichen, um den Bürgerkrieg zu beenden. Andere behaupteten, Wu wolle stattdessen seine eigene Dynastie begründen, indem er den in seiner Hand befindlichen Prinzen Hui Han oder Djian Tsao, seine getreue Militärmandarin, adoptierte und zu seinem Erben erklärte. Andere meinten, Wu wolle Djian Tsao heiraten. Dann wieder hieß es, der General habe vor, Prinz Hui Han wahlweise mit Fürstin Liu Luli, der designierten Fürstin Zo Zo von Palitan oder gar der Vorsteherin des Händlerrates My-Mei zu verkuppeln, um die Kranich- oder Spinnenprovinz zu gewinnen. Keiner der Abenteurer gab viel auf diese Geschichten.
Ernster erschienen die Gerüchte von zunehmenden Kampfhandlungen auf dem Maishi-See, von Kämpfen mit den Jogdaren, aber auch Unruhen in der zum Einflussbereich der Prinzessin gehörenden Phönix- oder Tigerprovinz. Ähnliches galt für die Schaffung einer neuen Reiterarmee durch General Wu, bestehend aus jagodischen, dalmarischen und farukanischen Söldnern. Diese einige hundert (glaubhaft) oder gar mehrere tausend Streiter starke (eher unwahrscheinlich) Formation wurde in Kintai als Armee der südlichen Barbaren oder Nanban-Armee bezeichnet, doch General Wu nannte sie die Tianma, die „himmlischen Pferde“.
Dass die Abenteurer sich inzwischen einen Namen gemacht hatten, bewies sich, als sie eine Einladung von Madame Jiao erhielten. Die bekannte Kurtisane war Palitanerin, weilte jedoch jedes Jahr für einige Monate in Atasato, wo sie einen erlesenen Kundenkreis aus Angehörigen der Handelselite und dem kintaraischen Adel hatte - darunter angeblich auch Generalin Ranku Kane. Dies war umso beeindruckender, als Jiao zwar Albin, aber eine Ausländerin war. Wenig überraschend hielten manche sie für eine Spionin Palitans oder glaubten, sie spioniere umgedreht IN Palitan für Kintai. In jedem Fall war sie in der High Society wie der Halbwelt beider Städte bestens vernetzt. Die Einladung galt für ein Treffen in der „Seidenfalterpagode“, einem Vergnügungspalast der besseren Sorte, an dem Jiao Anteile besaß. Es war eines der Häuser, wo die Bezahlung oft über „Geschenke“ geregelt wurde und die „geschäftlichen Arrangements“ teilweise über Monate oder länger Bestand hatten. Luo war etwas nervös wegen der starken Position der „13 Blätter“ im Vergnügungsviertel, doch natürlich würde er Hao und Ren begleiten.
Das mehrstöckige Gebäude lag am Rande des Vergnügungsviertels und verfügte über einen gepflegten Garten. Überall schwebten seidene Schmetterlinge, die an dünnen Bändern befestigt waren, im Wind tanzten und ein leises Rascheln erzeugten. Die Bediensteten – viele von ihnen zhoujiangischer Herkunft – waren zumeist sehr hübsch, unter dem Hilfspersonal waren auch viele Jungen und Mädchen.
Der Argwohn Luos wurde noch gesteigert, als man die Abenteurer aufforderte, ihre Waffen abzugeben. Allerdings wäre ein Anschlag in einem so bekannten Haus recht gewagt gewesen, und Hao und Ren waren dank ihrer Magie auch unbewaffnet nicht wehrlos. Aber die drei waren doch zurückhaltend, die angebotenen Erfrischungen anzunehmen, während sie warteten, zu Madame Jiao vorgelassen zu werden.
Die Kurtisane empfing die Helden in einem Zimmer im dritten Stock, das einen guten Blick auf den Garten bot. Ihre kostbare Kleidung und ihre verschlungen Tätowierungen in Form von Drachen, Schlangen oder Fischen (?), die sich zu bewegen schienen, verliehen ihr eine beeindruckende, vielleicht auch ein klein wenig beunruhigende Aura. Nach kurzem Smalltalk, bei dem sie die Fähigkeiten der Abenteurer lobte, sich in besserer wie zwielichtiger Gesellschaft zu bewegen, kam sie zur Sache. Sie wünschte diskrete Hilfe: Bedauerlicherweise sei ein Geldgeber des Hauses vor einer Woche im Vergnügungsviertel ermordet worden. Es handelte sich um Shigamura Nobutaro, ein Mitglied der heimischen Händlerkaste. Er war weniger Selfmademan als Erbe des Vermögens seines Vater Shigamura Nabutada, der mit dem Sarnburg-Handel über die Seidenstraße reich geworden war. Nobutaro hatte das Vermögen investiert, unter anderem in mehrere Objekte im Vergnügungsviertel. Jiao wünschte eine Ermittlung, ohne dass ihr Name als Auftraggeberin genannt wurde. Die Abenteurer sagten zu, ohne um ihre Belohnung zu feilschen. Sie gingen davon aus, dass der Einfluss einer Frau wie Jiao nützlich sein konnte, und hatten auch nicht viel Vertrauen in die einheimischen Behörden.
Nobutaro hatte wegen seiner Verbindungen zum Vergnügungsviertel auch Kontakte mit den Triaden gehabt, namentlich zu den „13 Blättern“, obwohl er sie verachtete. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Seine Ehefrau Eiko gehörte ebenfalls einer Händlerfamilie an. Jiao wusste sonst wenig über sein Privatleben, auch von Feinden war ihr nichts bekannt. Sie hatte den Tatort nicht gesehen und wusste auch keine Details – nur, dass es keine saubere Sache gewesen war. Die Helden fragten im Pavillon noch etwas über das Mordopfer herum. Nobutaro hatte das Haus gelegentlich besucht, um zu trinken, zu spielen (wobei er mehr verlor als gewann), und auch andere…Vergnügungen…in Anspruch zu nehmen. Allerdings hatte er unter den Angestellten einen schlechten Ruf. Sein Verhalten hatte Grenzen überschritten, für die man einem normalen Besucher die Tür gewiesen, und vermutlich auch langfristig die Rückkehr verwehrt hätte.
Es war schon spät am Abend, doch die Abenteurer wollten sich noch den Tatort anschauen. Hao und Luo waren dank ihrer Magie in der Lage, auch im Dunkeln gut zu sehen. Geführt von Luo fanden sie schnell den Ort des Geschehens. Natürlich waren alle Spuren bereits kalt, und was sich an Fußabdrücken in der Seitengasse verewigt hatte, bot keinen hilfreichen Hinweis. Es war eine ziemlich trostlose Umgebung – eine schmale Gasse, auf der einen Seite ein Lagerhaus, auf der anderen die Rückseite einer Sakeschänke. Was hatte der Tote hier gemacht – war er vielleicht hergelockt worden? Trotzdem die Tat schon eine Woche zurücklag, fanden sich noch immer Blutspritzer. Offenkundig war der Angriff überaus brutal erfolgt, zunächst als das Opfer stand. Möglicherweise war schon dabei ein tödlicher Treffer erzielt worden, doch der Täter hatte nicht vom Opfer abgelassen, als es lag. Dies deutete auf persönlichen Hass hin – oder jemand wollte zumindest den Eindruck erwecken. Ren wob einen Zauber, um Geister aufzuspüren, doch es gab keine Anzeichen jenseitiger Wesen in der Nähe. Man würde auf klassische Art und Weise ermitteln müssen.
Dies geschah am nächsten Tag, wobei sich Luo mit seinen guten Straßenkontakten bewährte. Er erfuhr, dass Überfälle im Vergnügungsviertel eigentlich kein Problem waren. Gerade wohlhabende Kunden wie Nobutaro waren normalerweise sicher, da die Beute den potentiellen Ärger kaum wert war. Die Einheimischen schoben die grausame Tat auf eine Privatfehde oder geschäftliche Konflikte. Die Leiche war von einem Bettler gefunden worden, den die Behörden umgehend festgesetzt hatten – als Zeuge oder als potentiellen Verdächtigen/Sündenbock. Man trauerte dem Toten nicht nach, da er als gefährlich galt, besonders für junge Frauen. Es war bekannt, dass er mit den „13 Blättern“ Kontakte gehabt hatte. Allerdings herrschte Uneinigkeit, ob Nobutaro mit ihnen Geschäfte machte oder in Streit mit der Triade lag. Ein Name, der mehrfach auftauchte, war Maeda Nagato, der Betreiber des Spielhauses/Bordells, mit dem Luo einige Wochen zuvor eine unerfreuliche Begegnung gehabt hatte.
Die Abenteurer beschlossen, die Familie des Toten zu kontaktieren. Sie hofften, so neben Informationen einen „offiziellen“ Auftrag zu erhalten, hatte die Kurtisane sie doch um Verschwiegenheit gebeten. Nabutaro hatte in einem besseren Viertel Atasatos gelebt. Es kostete Hao und Ren etwas Mühe, ein Gespräch mit der Witwe zu arrangieren. Sie war mit Mitte Dreißig deutlich jünger als ihr zwanzig Jahre älterer Ehemann. Eiko war misstrauisch, doch gelang es Hao, sie zu überzeugen. Im Grunde hatte sie ähnliche Motive wie Jiao, da sie Schande und Schaden von ihrem Haus abhalten wollte. Sie hatte um die Ausflüge ihres Mannes in das Vergnügungsviertel gewusst. Die Beziehung der Eheleute schien nicht die engste gewesen zu sein. Von Feinden und Rivalen wusste Eiko nichts. Sie misstraute Nobutaros Kontakten zu den „13 Blättern“. Ihr Ehemann hatte Leibwächter beschäftigt, sie aber auf seinen Besuchen im Vergnügungsviertel nicht mitgenommen. Sie bestand darauf, dass Luo sich aus dem Zimmer entfernte, als sie mit Hao und Ren weitere Details besprach. Offenbar wusste sie um die zweifelhaften sexuellen Neigungen ihres Ehemanns und legte begreiflicherweise wenig Wert darauf, dass diese bekannt würden. Bei seinen Geschäften hatte er letztlich leine glückliche Hand gehabt. Sie gestatte den Abenteurern, sich im Arbeitszimmer des Toten umzusehen.
Luo fand dort eine gute versteckte Sammlung anrüchiger Zeichnungen, die mit Dingen wie Fesselungen und ähnlichen Vorlieben zu tun hatten. Die Abenteurer argwöhnten, dass der Tote noch düstere Geheimnisse verbarg. Luo beschloss die Bilder zu entfernen – einerseits war der Familie nicht gedient, wenn sie diese fanden, andererseits hoffte er, vielleicht den „Künstler“ oder Verkäufer ermitteln zu können. Hao ging mit Rens Hilfe die Geschäftspapiere durch. Offenbar war die Seidenfalterpagode nicht die einzige Investition Nabutaros im Vergnügungsviertel gewesen. Auch Maeda Nagatos Spielhaus/Bordel hatte dazu gehört, und die beiden hatten wohl auch illegale Geschäfte gemacht. Es lag nahe, dass der Tote auch in den Menschenhandel involviert gewesen war. Allerdings hatte Nagato ihn anscheinend übervorteilt oder die Geschäfte waren nicht gut gelaufen. Es fanden sich zudem Hinweise, dass Nobutaro mehrere Beamte in der Tasche gehabt hatte.
Auf Luos Anregung unterhielten sich die Abenteurer noch mit dem Leibwächter Nobutaros. Dieser, ein kräftiger Mensch namens Ito, hatte freilich wenig zu erzählen. Der Meister war in letzter Zeit etwas paranoid gewesen und hatte seinen zweiten Leibwächter entlassen, weil er ihm nicht mehr traute. Dass er sich dennoch hatte in die Falle locken lassen, war merkwürdig. Allem Anschein nach war es auch finanziell nicht mehr so gut gelaufen, auch wenn die Familie von Armut weit entfernt war. Über mögliche direkte Feinde wusste Ito nichts.
Am dritten Tag der Ermittlungen stand eine Kontaktaufnahme mit den Behörden auf dem Programm. Wie die Abenteurer dank Luos Kontakte erfuhren, verfügte das Vergnügungsviertel wie jeder Bezirk Atasatos über eine eigene Wachstube. Diese Stationen waren für die allgemeine Ruhe und Ordnung zuständig, gingen gemeldeten Unregelmäßigkeiten nach und fungierten als Überwacher für Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen. Sie waren jeweils mit einigen Wachleuten und ein oder zwei niederen Beamten besetzt. Schwerwiegende Vorfälle wurden nach oben weitergemeldet, woraufhin der fürstliche Hof einen höheren Beamten abstellen konnte.
Da anzunehmen war, dass die Sicherung des Tatorts in den Händen der örtlichen Station gelegen hatte, beschlossen die Abenteurer, diese zuerst zu kontaktieren. Es hieß freilich, dass die Männer und Frauen zusätzlichen „Anreizen“ nicht abgeneigt waren und Kontakte zum organisierten Verbrechen hatten. Leiter der Dienststelle war gegenwärtig ein Schwertalb namens Midori Kunji. Für die Ermittlungen hatte der Fürstenhof Watada Hideori abgestellt. Dieser galt als korrekter, vielleicht etwas steifer Beamter. Er hatte schon mehrere Fälle gelöst und besaß Kontakte bei Hofe wie bei den Handelsherren. Generell galt er als niemand, der nur nach einfachen Lösungen suchte.
Ren und Hao konnten ein Treffen mit Kunji arrangieren. Ebenso verabredeten sie sich mit Toba, einem menschlichen Wachmann, der beim Fund der Leiche zugegen gewesen war. Sie wollten sie außerhalb der Dienstzeiten in einem Restaurant bzw. einer Sakeschänke treffen, was natürlich bereits eine dezente Form der Bestechung darstellte.
Bis zu den Treffen am späten Nachmittag war noch Zeit. Hao beschloss, bei Maeda Nagato vorbeizuschauen. Das Spielhaus/Bordell des Triadenkontakts des Mordopfers war deutlich „rustikaler“ als die Seidenfalterpagode: hier wurde viel offener getrunken (und andere Dinge konsumiert), gespielt und diversen Vergnügungen nachgegangen. Ren blieb dem Treffen fern, da sie annahm, sie und Luo hätten sich bei den „13 Blättern“ mit ihrem Vorgehen gegen den Menschenhandel unbeliebt gemacht. Leider machte dies keinen Unterschied. Hao eckte mit ihren Fragen sofort an. Sie wurde unsanft hinausgeworfen und dabei auch noch bestohlen. Hao konnte die Beschatter abschütteln, die man ihr hinterhergeschickt hatte, doch jede weitere Befragung war dadurch erst einmal unmöglich.
Das Treffen mit den Beamten lief besser. Die Abenteurer erfuhren, dass Nobutaro die Kehle durchgeschnitten und er zudem kastriert worden war. Offenbar hatte man auch all seine Habe und Kleider entwendet. Solche Gewalt war im Vergnügungsviertel extrem selten – zumindest gegen begüterte Kunden. Die Verstümmelung deutete auf starken Hass und auf eine Verbindung mit den „Vorlieben“ des Toten hin - oder jemand wollte diesen Eindruck erwecken. Die Leiche war von einem Säufer namens Ru gefunden worden, einem ehemaligen Seemann. Er war zutiefst erschüttert gewesen und hatte wirres Zeug von einem „Leichentuch“ gefaselt. Hideori hatte den Zeugen festgesetzt. Der Tote sei nicht beliebt gewesen, aber nicht so verhasst, dass seine Ermordung zu erwarten gewesen wäre.
Als die beiden Frauen nach den Gesprächen ihrem Quartier zustrebten – einem Gasthaus in einem Viertel mit hohem Anteil zhoujiangische Exilanten – meinte Hao, aus den Augenwinkeln einen Verfolger zu bemerken. Ren hatte zwar nichts gesehen, aber durch das vorherige Gespräch misstrauisch geworden, wirkte sie umgehend Magie. Ein Blick in die Geisterwelt ließ sie erkennen, dass ein Todeswesen nahe war. Sie versuchte es durch „Geisterhaftes Leuchtfeuer“ anzulocken, doch die Verbindung wurde unterbrochen. Sie nahm an, dass der Geist sich der Anziehung widersetzt, oder ein beschworenes Todeswesen sich ihr auf Befehl seines Meisters entzogen hatte.
Am nächsten Morgen bereiteten sich Ren und Hao auf das Gespräch mit Watada Hideori vor. Beide legten formelle Kleidung an, und dank des diplomatischen Geschicks der Unggoy-Priesterin gelang es ihnen, vorgelassen zu werden. Hideori war keine besonders auffällige Erscheinung. Er achtete auf ein gepflegtes, aber nicht extravagantes Auftreten. Das schmale Gesicht wies die klassischen Züge kintarischer Alben auf, nur seine Frisur war sehr kunstvoll. Er begegnete den Abenteurern misstrauisch und ließ seine Sekretärin überprüfen, ob sie wirklich einen Auftrag der Familie des Toten besaßen. Offenbar hatte er Zweifel, ob ihre Motive mit den seinen übereinstimmten. Doch schließlich kam man auch dank des guten Rufs der Abenteurer überein, zu kooperieren. Die Information der Abenteurer, dass ein Geist auf die eine oder andere Weise involviert war, schien ihn in jedem Fall zu überraschen, auch wenn er das gut verbarg. Hideori schien ein Skeptiker gegenüber dem Übernatürlichen zu sein. Er hatte gleichwohl Tatort und Leichnam auf Zauberei überprüfen lassen, und tatsächlich entsprechende Hinweise gefunden – leider zu schwach, um sie zuzuordnen. Dem Opfer war die Kehle von hinten mit einem einzigen Schnitt durchtrennt worden, wobei er keinerlei Abwehrversuche unternommen hatte. Die Wunde hatte ihn mit Sicherheit daran gehindert zu schreien, doch war erstaunlich, dass der Angreifer oder die Angreiferin so nahe hatte herankommen kommen können. Auffällig war, dass man neben der nackten, verstümmelten Leiche eine vertrocknete weiße Chrysantheme gefunden hatte, die der Beamte aufgehoben hatte. Es war vermutlich eine Botschaft. allerdings war die Chrysantheme eine vieldeutige Blume – sie fand bei Beerdigungen Anwendung, stand aber auch für den Adel oder die Wiedergeburt. Und schließlich – wie Hao später herausfand – gab es ein sehr teurer Getränkt, das im Vergnügungsviertel ausgeschenkt wurde und Chrysanthemen enthielt. Zudem gab es einige Kurtisanen, die sich nach den Blumen benannten – von einer „weißen Chrysantheme“ wusste allerding niemand etwa.
Hideori erlaubte den Abenteurern, mit Ru zu sprechen, den er in der Quarantänestation des Hafens untergebracht hatte. Auf dem Weg dorthin wurden sie von einer Frau beschattet, offenbar einem niedrigrangigen Mitglied der „13 Blätter“. Luo verscheuchte sie ohne größere Mühe, blieb aber wachsam.
Der Zeuge war auf der Quarantänestation offenbar alles andere als beliebt, da er nur Ärger machte. Ru war ein Zwerg, der nicht nur ziemlich verlebt wirkte, sondern auch unter erheblichen Stress, ja Angstzuständen litt. So ließ er mit dem ersten Anzeichen der Dunkelheit stets ein Licht in seinem Zimmer brennen. Es kostete Hao und Ren einige Mühe, ihn zum Reden zu bringen, und auch dann blieben seine Angaben wirr. Ru erzählte, er habe das Opfer die Gasse betreten sehen. Bei ihm sei jemand gewesen, und doch auch wieder nicht. Ru habe etwas gehört, und doch zugleich nichts gehört, und als er die Gasse betrat, war da ein Leichentuch über dem Toten, und doch zugleich nicht. Seitdem glaubte er sich aus den Schatten beobachtet, doch da sei niemand…
Ren besaß einige Kenntnisse über derlei Dinge. Was auch immer dem Seemann begegnet war, musste wahrhaft furchteinflößend gewesen sein. Das schreckliche Antlitz eines Gamji oder ein mächtiges Feenwesen mochte solche Auswirkungen haben. Mächtige Feenmagie oder Zauberei mochten zudem seine Sinnesverwirrung erklären.
Alles in allem vereinte das Verbrechen Elemente, die nicht recht zueinander zu passen schienen. Die magischen Elemente kontrastierten mit dem Diebstahl der Kleider und Besitztümer des Toten, und die meisten Geister töteten blutärmer und verstümmelten ihre Opfer nicht derart brutal.
Die Abenteurer stellten sich auf jeden Fall darauf ein, dass auch sie in Zukunft nicht nur von den „13 Blättern“ beschattet werden mochten. Sie überlegten, ob man bei den Hehlern Atasatos nach den Habseligkeiten des Toten suchen könnte, machten sich aber nicht zu viel Hoffnung. Luo regte an, Madame Jiao vom Stand der Ermittlungen zu informieren und suchte die Seidenfalterpagode auf, wobei er auf mögliche Verfolger achtete. Allerdings war die Auftraggeberin gerade abwesend.